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Märchen meines Großvaters

Am Anfang war ein Märchen

Es war einmal ein ganz einfacher Mensch, der über alles in der Welt zu träumen und sich Märchen auszudenken mochte. Nichts unterschied ihn von allen anderen Menschen. Er schaute nur öfters als andere zum blauen Himmel, stolperte oft und fiel manchmal sogar auf die Erde. Aber das bemerkte er nicht, weil er zerstreut und kurzsichtig war. Der Stoff für seine Märchen entsprang aber nie seinem eigenen Kopf. Man wusste nicht genau, was sich in seiner Kindheit, seiner Jugend und in seinem weiteren Leben zugetragen hatte, aber auf seine alten Tage blieb er einsam und lebte in seiner eigenen unwirklichen Welt.

Einst war er in seiner kleinen Stadt berühmt geworden, wo sein erstes und einziges Buch erschienen war. Das Buch hatte aber keinen Erfolg weiter. Und so vergaß man diesen Menschen bald, der spannende Geschichten für Kinder und Erwachsene geschrieben hatte.

Der Märchenerzähler wohnte im einzigen Zimmer eines kleinen Hauses am Stadtrand. Selten hatte er Besuch, außer von einer jungen Milchfrau und einer Köchin. Sein ganzes gewöhnliches Leben hatte er am Schreibtisch verbracht. Schlaflose Nächte und ständiges Schreiben hatten seine ohnehin nicht besonders gute Gesundheit ruiniert. Kerzenrauch und Qualm hatten bei ihm einen starken Hustenanfall verursacht. Seine Hände hatten an natürlicher Farbe verloren und waren schwarz wie Tinte. Aber heute abend machte der Märchenerzähler nach seinem Spaziergang die Haustür schneller als gewohnt hinter sich zu. Ohne seinen Gehrock und die schmutzigen Schuhe auszuziehen und den alten Hut abzunehmen, setzte er sich an den Schreibtisch und fing schnell an, etwas aufzuschreiben. ‚Endlich einmal’, dachte er, ‚habe ich einen spannenden Stoff für ein Märchen gefunden. Und vielleicht sogar für das beste.“ Im Licht der brennenden Kerze konnte man sein lächelndes Gesicht und seine blitzenden, in die Ferne gerichteten Augen gut sehen, so als ob er die grenzenlose Weite vom einen bis zum anderen Ende der Welt durch die grauen bis rauchschwarzen Wände seines alten Hauses deutlich vor sich sähe. Und dann erblickte der Märchenerzähler etwas Unsichtbares in der Ferne, dachte lange nach, griff zur Feder und schrieb wiederum schnell etwas auf das Papier. Nachdem er das Geschriebene von neuem gelesen hatte und mit dem Inhalt unzufrieden war, strich er ohne Rücksicht einige Absätze und sogar ganze Seiten durch. Nach mehreren Stunden mühevoller Arbeit blieben nur einige Sätze übrig. Aber auch jetzt war er noch nicht zufrieden. Die Kerze war niedergebrannt. Der Märchenerzähler unterbrach seine Arbeit und zündete eine neue an. Er ging im Zimmer auf und ab. Sein Schatten folgte ihm nach. Zum hundertsten Male sagte sich der Märchenerzähler, er sei nicht in der Lage, das Richtige zu schreiben. Verzweifelt griff er sich an den Kopf und litt unerträglich. Seine unerklärlichen Leiden würden vielen sonderbar erscheinen, denn das Unsichtbare zu sehen ist bereits ein Wunder. Und dieses auf Papier niederzuschreiben, ist nicht jedem gegeben. Nicht jeder kann ein Wunder beschreiben, umso mehr ein vollendet schönes Märchen auf Papier niederschreiben. „Oder soll das Märchen auf diese Weise beginnen ...“, sagte der Märchenerzähler laut und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Eine halbe Stunde darauf lehnte er sich wieder zurück, nahm das voll geschriebene Papier in die Hand und begann laut zu lesen: „Es geschah vor sehr langer Zeit, als die ganze Welt in mehrere Königreiche aufgeteilt war. Jedes Königreich hatte sein eigenes Kriegswappen. Viele Könige führten einen brüllenden Löwen, einen riesigen, wütenden Bär oder ein Wildschwein mit scharfen Stoßzähnen im Wappen. Ich erzähle aber von einem anderen Land, in dessen Wappen sich ein Paar Tanzschuhe, eine einfache Brosche und ein weiser Haarkamm finden. Wundere dich nicht, eben jener Haarkamm, mit dem du dir jeden Tag deine Haare kämmst. Aus irgendeinem Grund verwandelten sich die Schuhe mit der Zeit in Stiefel, der Haarkamm in eine Krone, und die Brosche ging ganz verloren“. „Ja, das ist genau der richtige Anfang für mein bestes Märchen“, lobte sich der Märchenerzähler heute zum ersten Mal und setzte sogar seinen Hut ab. „Na endlich haben Sie vor mir Ihren Hut abgesetzt!“, hörte er eine weibliche Stimme plötzlich hinter sich. In Gedanken vertieft meinte er, dass ihm das nur so vorkäme. Und er las weiter: „Das Königreich war weder groß noch klein, weder reich noch arm, weder fröhlich noch traurig. Denke aber nicht, dass hier nur Könige und vornehme Würdenträger lebten, es waren auch ganz einfache Menschen wie der Schumacher Hans, ein echter Meister seines Faches.“ Nach diesen Worten setzte der Märchenerzähler in seiner Zerstreutheit den Hut wieder auf den Kopf. Diesmal ertönte die Stimme nicht mehr freundlich: „In Gegenwart einer Dame setzt man den Hut nicht auf, um so mehr trägt man zu Hause keine Kopfbedeckung“. Der alte Mann glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Er drehte sich um und sah in fassungslosem Erstaunen eine Unbekannte vor sich. Der Märchenerzähler dachte erst, dass es schon Morgen wäre und die junge Milchfrau ihm einen Krug mit frischer Milch brächte. Draußen war aber nach wie vor dunkle Nacht. Der Alte hatte schon längst keine guten Augen mehr. Er dachte also, dass die Köchin in aller Frühe zu ihm kam. “Hören Sie, Greta“, sagte er, „Sie sind sehr wahrscheinlich wegen Ihres Lohnes gekommen. Ich würde Sie aber noch um etwas Geduld bitten, da ich es sicher bald schaffe, alle meine Schulden abzuzahlen“. „Ich bin doch nicht Greta!“, sagte die unbekannte Frau sauer. „Na so was aber auch, mich mit einer Köchin zu vergleichen!“ „ Ich wollte Sie nicht beleidigen. Wer sind Sie denn?“, fragte der Märchenerzähler voller Interesse. „ Ich bin die Madame Vergessenheit“, sagte die Frau. „Madame Vergessenheit ...“, wiederholte der alte Mann die Worte seiner nächtlichen Besucherin. „Es wundert mich, dass ich nie etwas von Ihnen gehört habe.“ „Kein Wunder“, sagte die schöne, ganz in schwarz gekleidete Frau, „denn ich komme zu jedem Menschen nur einmal. Hören Sie mich?“ „Ja, ja. Sie kommen nur einmal ...“, sprach der Märchenerzähler nach und schaute schon nicht mehr auf die Frau, sondern auf sein Blatt Papier. Dann fragte er: „Warum sind Sie eigentlich zu vorgerückter Stunde gekommen? Ich möchte nicht, dass Sie es für Unhöflichkeit halten, aber ich habe äußerst wenig Zeit.“ „Sie haben Recht“, sagte die Frau, „Sie haben wirklich sehr wenig Zeit. Genauer gesagt, Ihnen ist zu wenig Zeit geblieben. Denn die läuft ab...“ „Ich mag es nicht, wenn man mich von meiner Arbeit ablenkt. Wenn Sie nichts Wichtiges haben, kommen Sie bitte ein anderes Mal“, antwortete der alte Mann und schrieb wieder, gerade so, als wäre nichts gewesen. „Lassen Sie mich bemerken, dass es ein anderes Mal für Sie nicht mehr geben wird“, sagte die Frau, trat langsam an den Schreibtisch heran, griff ohne zu fragen seine voll geschriebenen Papiere und fing an zu lesen. Nun erst begriff der Märchenerzähler, wer in der Nacht zu ihm gekommen war. „Sie sind also diejenige, vor der alle panische Angst haben ...“, sagte er. „Ich verstehe nicht, warum ich keinen Respekt verdiene. Es sieht aber so aus, dass Sie gar keine Angst vor mir haben?!“ „Meine Zeit ist gekommen ...“ lächelte er nur, „Sie möchten mich mitnehmen“. „Ja“, sagte Madame Vergessenheit, “ich nehme Sie mit. Ihre Zeit ist abgelaufen. Machen Sie sich fertig zur Reise!“ „Was für ein Pech!“, rief der alte Mann. „Wären Sie gestern oder besser heute morgen gekommen, dann hätte ich es nicht im Geringsten bedauert. Oder morgen abend wäre mir ganz recht. Aber jetzt...“ „Und was ist jetzt?“ „Jetzt brauche ich noch eine Stunde Zeit ...“ „Lassen Sie das, mein Herr!“, sagte die Frau gereizt, „Wenn Sie nur wüssten, wie oft ich das Gleiche höre. Alle betteln mich um noch ein Jahr, noch einen Monat, noch eine Woche an und schwören, alles Mögliche zu tun, was sie ein ganzes Leben lang nicht in der Lage waren, zu machen“. „Seien Sie so gut!“, bat der Märchenerzähler. „Eine Stunde wird doch keine Rolle spielen. Und ich schaffe es, mein bestes Märchen zu Ende zu schreiben.“ „Ein Märchen?“, fragte Madame Vergessenheit. „Was ist ein Märchen?“ „Es ist gar nicht so leicht, auf diese Frage zu antworten“, sagte der alte Mann nachdenklich und schwieg eine Weile. „Jeder versteht es auf seine Weise.“ „Und wie ist es Ihrer Meinung nach?“, fragte die Frau. „Ein Märchen ist eine Zauberwelt, die es in Wirklichkeit leider nicht gibt, aber woran man doch fest glaubt.“ „Ich bin durch viele Welten gezogen, aber über eine Zauberwelt habe ich noch nie etwas gehört. Wenn Sie mich jedoch überzeugen, dass Ihr Märchen eine Stunde Zeit wert ist, dann halte ich mich wohl ein wenig auf. Nun, erzählen Sie!“, sagte die schöne Frau und setzte sich auf einen Stuhl. Der alte Mann war ratlos, er wollte erklären, dass Märchenschreiben und Märchenerzählen nicht das Gleiche ist. Aber nun dachte er kurz nach und begann zu sprechen. Zuerst klang sein Märchen wie eine ganz einfache Geschichte, die jeder erzählen könnte. Sogar die Märchenhelden begeisterten Madame Vergessenheit nicht, sie waren wie aus dem echten Leben. Die Frau wollte die Kerze schon ausblasen und das Haus mit dem Märchenerzähler für immer verlassen. Da begann ihr Herz auf einmal stärker zu klopfen. Sie fühlte, als ob etwas ihr ans Herz griffe. Nun erst blickte Madame Vergessenheit den Märchenerzähler scharf an und traute ihren Augen nicht: Noch vor einigen Minuten stand ein unansehnlicher Alter vor ihr. Und nun sah sie einen hübschen stattlichen Jungen. Die Frau hob sogar ihren Schleier hoch, um sich zu vergewissern, dass sie diese Gestalt in Wirklichkeit sieht. Aber diese scheinbare Fata Morgana war immer noch zu sehen. Und mehr noch, sie ging in Realität über. Immer mehr und mehr neue Helden und unübersehbare Landschaften erschienen. Wie kann so etwas nur geschehen?’, dachte sie. ‚Aber wie passten die großen Wiesen, Felder, Wälder und Berge in die Wände dieses engen Zimmers?’ Sie wollte den Märchenerzähler schon danach fragen, aber die Mäuse, die die ganze Zeit auf dem Fußboden raschelten, fingen an zu piepsen, als ob sie bäten, den Erzähler nicht zu unterbrechen. Das Märchen ging weiter. Es schien so, als würde die Kerze schnaufen und immer wieder ihre heißen Tränen weg wischen. Madame Vergessenheit hatte schon längst ihren Hut und die schwarzen Handschuhe ausgezogen. Sie hielt das Taschentuch an den Mund, um ein Lächeln oder ihre Enttäuschung zu verbergen. Und einmal hielt sie es vor ihre Augen ... “Das war’s“, sagte der alte Mann müde, „nun bin ich bereit, mit Ihnen zu gehen. Ich habe den Menschen nichts mehr zu erzählen.“ Eine lange und geheimnisvolle Pause trat ein. Dann stand die Frau plötzlich auf, nahm Hut und Handschuhe und eilte hinaus. Die Frau wollte die Tür schon hinter sich schließen, als ihr der Märchenerzähler zurief: „Und was ist mit mir?“ „Ich gehe allein“, sagte Madame Vergessenheit. „Aber warum?“ Der alte Mann konnte es nicht begreifen. „Von nun an sind Sie unsterblich, mein Märchenerzähler“, sagte Madame Vergessenheit. „Schreiben Sie weiter wunderbare Märchen! Das ist das Beste, was ein Mensch schreiben kann.“ Und sie verließ das Haus. Erst hinter der Tür fing sie an zu weinen. Sie war über ihr hartes Schicksal, mit der schwarzen Liste von Haus zu Haus zu gehen, sehr betrübt. Der Name des Märchenerzählers war aber nicht mehr auf der Liste zu finden.

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