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Märchen meines Großvaters

Die wahrheitsliebende Laterne

„Einst vor langer Zeit waren alle Leute auf der Welt ehrlich. Aber die Zeit ist vergangen und die Menschen haben sich auch verändert“, sagte mein Großvater mit einem Seufzen und fing an, ein neues Märchen zu erzählen. „Einstmals gab es eine wahrheitsliebende Laterne. Wenn jemand die Wahrheit sagte, dann leuchtete die Laterne, wenn es sich aber um eine Lüge handelte, ging sie aus. Und so leuchtete die Laterne seltener und seltener, bis sie einmal schließlich ganz ausging. Hundert Jahre lang hatte sich keiner an die Laterne erinnert und sie ging nur von Hand zu Hand über. So war die Laterne überall: im Keller, am Dachboden und meistens in einer dunklen Ecke. Und so wäre die Laterne ungenutzt geblieben, wäre nicht einmal die Sonne erloschen. Tagsüber war es nun genauso dunkel wie nachts. Dann schalteten die Leute das ganze Licht an und meinten, ohne Sonne auskommen zu können. Später waren aber alle Birnen durchgebrannt und es gab überhaupt kein Licht mehr. Ringsum herrschte tiefe Finsternis. Die Leute wurden traurig und gingen im Dunkeln auf und ab, bis sich ein kleines Mädchen an die Laterne erinnerte. Und das war die wahrheitsliebende Laterne. Das Mädchen brachte die Laterne zum Markt und zeigte sie den anderen. Umsonst aber baten die Leute die Laterne, zu leuchten. Sie glaubte keinem mehr. Sie schaute nur, wie die Leute einzeln nach Hause gingen. Ein Mädchen blieb aber bei ihr. „Wahrheitsliebende Lampe“, sagte das Mädchen. „Was für eine Lampe?“, empörte sich die Laterne, „Ich bin die Wahrheitsliebende Laterne!“ „Verzeihe mir bitte, liebe kleine Laterne.“ „Ich bin keine kleine Laterne! Wenn du mich so nennst, werde ich überhaupt nicht mit dir sprechen.“ „Schon gut“, sagte das Mädchen, „ich werde dich nicht mehr so nennen. Ich bitte dich, die wahrheitsliebende Laterne, leuchte wieder! Ich habe Angst ...“ „Ich habe schon längst Angst“, brummte die Laterne, „seit hundert Jahren habe ich von den Leuten kein wahres Wort mehr gehört.“ „Vielleicht haben sie vergessen, was die Wahrheit ist“, meinte das Mädchen. „Was heißt ‚sie haben die Wahrheit vergessen’?“, rief die Laterne, „das kann man doch nicht vergessen. Für die Leute ist es scheinbar einfach viel besser, ohne Wahrheit zu leben.“ Seit langem hatte die Laterne keine Gespräche mehr geführt und so redete sie weiter und weiter. Auf einmal hörte sie das Weinen des Mädchens. „Warum weinst du?“, fragte die Laterne erstaunt. „Ich weine ja gar nicht“, erwiderte das Mädchen und die Tränen liefen ihm über das Gesicht. „ Ich sehe doch deine Tränen. Das darfst du nicht tun!“ „Verzeihe mir, liebe Laterne. Das ist nicht wahr. Ich weine.“ „Na, siehst du!“, rief die Laterne und blitzte plötzlich auf. Vom eigenen Licht war die Laterne aber selbst erschrocken und rief: „Ich brenne! Hilfe!“ „Du bist aber wirklich schön“, sagte das rotbäckige Mädchen. „So sieht das Licht der Wahrheit aus!“ „Ja, so bin ich“, sagte die Laterne selbstgenügsam, „wenn du willst, werde ich nur dir leuchten.“ „Und meiner Mutter?“, fragte das Mädchen. „Na gut, deiner Mutter auch.“ „Und meinem Vater?“ „Und deinem Vater ebenso.“ „Und dem Onkel Franz?“ „Wer ist denn Onkel Franz?“, regte sich die Laterne auf, „Ich kenne Onkel Franz nicht.“ „Er ist ein sehr undisziplinierter Mensch, meint mein Vater“, sagte das Mädchen, „und meine Mutter bedauert ihn“. „Na gut, wenn du diesen Onkel Franz so lieb hast und für ihn einstehst, dann leuchte ich ausnahmsweise auch dem Onkel Franz. Bist du jetzt zufrieden?“ „Nein“, sagte die Kleine. „Nein?!“, empörte sich die Laterne, „Reicht dir das immer noch nicht?“ „Und die anderen Leute?“, fragte das Mädchen. „Das ist nicht richtig, wenn du nur mir, meiner Mutter und meinem Vater leuchtest ...“ „Vergiss Onkel Franz nicht!“, unterbrach es die Laterne. „Nein, das ist schon viel zuviel“, sagte sie und ging aus. Als die Laterne aber hörte, dass das Mädchen weggeht, rief sie ihm zu: „Hey, wo gehst du hin?“ „Ich muss zu meiner Mama, sie sucht mich bestimmt schon.“ „Weißt du was ...“, sagte die Laterne viel sagend, „ich habe es mir überlegt ...du hast recht. Welchen Sinn hat es, wenn ich nicht leuchte? Ich habe mich entschieden, dass die wahrheitsliebende Laterne immer leuchten muss.“ „Das finde ich aber ganz gerecht!“, sagte das Mädchen und klatschte in die Hände. „Und die Laterne soll ... nein, ich meine mich doch, ich soll dann immer im Dunkeln leuchten und die Finsternis wird mich nie überwältigen!“ „Du bist auch eine kluge Laterne! Ich habe leider nicht alles verstanden, was du meintest“, sagte das Mädchen ehrlich. „Das ist aber nicht schlimm. Ich rede zu viel, anstatt etwas zu machen. Ich mache also das Licht an. Für alle. Ich gehe an!“ Die Laterne ging also an und leuchtet bis jetzt ununterbrochen. Schade nur, dass nicht jeder sein gutes und zu Herzen gehendes Licht sieht.“

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