„Es war einmal ein fünfzehnjähriger Junge, der schon ein Jahr in der Kohlengrube eines Bergwerks gearbeitet hatte. Die Bergarbeiter nannten es ‚im Berg arbeiten’“, fing mein Großvater an, ein neues Märchen zu erzählen. “Der Berg wurde dabei dem Erdboden gleichgemacht und die Bergleute drangen weiter in das tiefe Innere des Berges ein. Obwohl ihn eine panische Angst vor der ewigen Finsternis der Grube befiel, stapfte Paul aber trotzdem wie die anderen erfahrenen Bergarbeiter durch den dunklen Tunnel. Die dampfende Laterne in seiner Hand beleuchtete die Gesichter der Bergleute und warf einen Schatten hinter ihre Schritte zurück, als riefe sie diese dazu auf, sich zu besinnen und ans Tageslicht zurückzukehren. Der Kanarienvogel, den die Arbeiter dabei hatten, sehnte sich auch nach der Sonne und dem blauen Himmel. Der Vogel hatte ein graugrünes Gefieder mit dunklen Streifen. Er saß in einem winzigen Drahtkäfig und zwitscherte angenehme Töne. In der Grube herrschte stickige Luft und betäubte langsam die Bergleute. Sie waren mit ihrer schweren Arbeit beschäftigt und vergaßen darüber den Vogel, den einzigen Vorboten bei Einsturzgefahr. Der Berggeist zögerte aber und beobachtete seine zukünftigen Opfer noch gleichgültig. Die letzten Karren mit der geborgenen Kohle waren schon nach oben gehoben. Der Arbeitstag war zu Ende und die ermüdeten, aber zufriedenen Bergarbeiter standen im Tageslicht. Plötzlich erinnerte sich Paul an den Kanarienvogel, der unten noch zurückgeblieben war. Er warf den Bergleuten ein paar Worte zu und ging dann in die Grube zurück. Als der Vogel den Menschen sah, fing er an, auf seiner Stange hin und her zu hüpfen und dem Jungen undeutlich etwas zu erzählen. Paul steckte seinen Finger in den Käfig, als wollte er zu dem Kanarienvogel sagen: “Hab keine Angst. Ich bin da. Ich nehme dich mit.“ Da erwachte der Berggeist und erinnerte sich an sein fürchterliches Vorhaben. In einem Augenblick umflog er seine Behausung und fing an, alles auf seinem Weg zu vernichten. Da geschah ein Einsturz. Paul lief schnurstracks aufs Geratewohl, bis er einen harten Schlag in seinem Rücken verspürte, der ihn hinwarf. Als sich der Kohlenstaub setzte, ertönte neben dem Jungen Vogelgesang. Paul ertastete die Laterne und zündete sie an. Er schaute sich um. Um sich herum war alles zerstört. Es sah so aus, als spielte der Berggeist mit dem Menschen, im Voraus wissend, dass der so oder so in eine steinerne Falle geriet. “Wo soll ich denn hingehen?“, fragte der Junge außer sich. Das Echo verdrehte seine Worte höhnisch und gab lange nach dem Vogel wieder: “Ororororor ... urururururur“. „Was hast du gesagt?“, fragte Paul den Kanarienvogel, „Soll ich nach rechts gehen?“. „Urururu-rurur“, zwitscherte der Vogel. „Dann gehe ich nach rechts“, entschied der Junge. Der Vogel wurde sofort unruhig und begann, mit den Flügeln zu schlagen. „Was meinst du denn? Dein „urururu-rurur“ heißt doch „ja“, oder? „Urururu-rurur!“, wiederholte der Vogel und forderte, aufmerksam zuzuhören. „Gut. „Ororororor“ heißt „ja“ und „urururu-rurur“- „nein“, richtig?“ „Ororororor“, der Kanarienvogel nickte zustimmend mit dem Kopf. „Verzeihe! Ich habe nicht gleich verstanden. Dann gehen wir also nach links.“ Drei Tage und Nächte wanderten die Gefangenen in diesem Steinlabyrinth umher. Einige Brotkrümel, die Paul noch in seiner Tasche gefunden hatte, gab er dem Vogel und machte sich mehr Sorgen um seinen einzigen Freund als um sich. Der Junge war ganz erschöpft, als er bei einer kleinen Grotte ankam. Seine letzten Hoffnungen auf eine Rettung waren schon erloschen. Er legte sich hin und schlief ein. Paul wachte von dem Sonnenlicht auf, das durch eine enge Spalte in die völlige Finsternis schimmerte. „Wir sind gerettet!“, schrie er, aber seine Stimme war kaum zu hören. „Ororororor“, stimmte ihm der Vogel zu und trällerte überglücklich. Die Spalte war aber so eng, dass nur dem Vogel die Rettung beschieden war. Der Junge kletterte der Sonne entgegen und der Vogel zuckte in seiner Hand. Da öffnete Paul die Hand. Der Kanarienvogel schüttelte sich und flatterte heraus. „Knorrrr-knorrrr!“, verbreitete er die Nachricht vom Bergmann, der Hilfe brauchte. „Ich habe dich verstanden“, flüsterte der Junge, das Bewusstsein verlierend, „Du holst mir Hilfe. Ich glaube dir. Ich werde warten.“ Stundenlang flatterte der Kanarienvogel um die Bergleute herum, bis jemand darauf kam, dass man ihm einfach folgen sollte, um den Jungen zu retten. So blieb der Mensch dank des Kanarienvogels am Leben.
Wenn jemand nicht an diese Geschichte glauben sollte, so hat er vielleicht in Teilen recht“, sagte mein Großvater zum Schluss, „Es besteht aber kein Zweifel daran, dass sie in Wirklichkeit geschehen ist.“
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