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Märchen meines Großvaters

Auf Suche nach der Begeisterung

Ein alter Kutscher saß auf seinem Bock, langweilte sich und wartete auf seinen letzten Fahrgast. Die Laternen brannten schwach und beleuchteten die alte Stadt nur so einigermaßen. Der Mond zog am Himmel auf. Sein helles Licht spiegelte sich auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen wider. Dem Kutscher blieb nichts anderes übrig, als nach Hause zu fahren. Plötzlich tauchte aus der Dunkelheit ein Mann auf. Er lief schnell über die leere Straße und begab sich geradewegs zur Kutsche. Der Unbekannte setzte sich ohne zu fragen in die Kutsche, klopfte dem Alten auf die Schulter und sagte müde: „Los!“ Der Kutscher fuhr los, drehte sich zum Herrn um und fragte lächelnd: „Wohin soll ich fahren?“ „“Zum Schwanensee.“ Der Kutscher hielt die Zügel straff und das Pferd an. „Ich fahre nicht zum dunklen Wald. Und zum Schwanensee schon gar nicht.“ „Warum denn nicht?“ „Das wissen Sie doch! Zu dieser Zeit hat ein ehrlicher Mensch dort nichts zu suchen. Und jetzt steigen Sie aus!“ „Ich zahle Ihnen gut.“ „Ich werde mein Leben selbst für drei Goldstücke nicht riskieren! Ich bin nicht so dumm, das zu tun.“ „Ich habe nur zwei Goldstücke“, sagte der Unbekannte und zählte sein Geld. „Um so mehr fahre ich nicht.“ „Schade“, sagte der Fahrgast nur und stieg aus. „Na gut“, überlegte sich der Kutscher es anders, „Sie zahlen dann aber im Voraus. Ich möchte Ihnen noch sagen, dass meine Kutsche und das alte Pferd zusammen keine zwei Goldstücke wert sind. Ich habe Sie also vorgewarnt.“ „Vielen Dank! Das werde ich nicht vergessen!“ Der Unbekannte umarmte den Kutscher sogar. „Das war doch gar nicht nötig“, brummte der alte Mann. „Zahlen Sie besser für die Fahrt!“ Der Kutscher trieb also sein Pferd zum dunklen Wald an. Die Münzen lagen in seiner Tasche, was ihn ruhig und zufrieden machte. Unterwegs erzählte der Kutscher viel von sich. „Was machen Sie eigentlich?“, fragte er seinen Fahrgast. „Ich schreibe Musik.“ „Und weshalb fahren wir zum Schwanensee? Zum Pilze sammeln ist es schon zu spät und für die Jagd noch zu früh.“ „Ich bin auf der Suche nach Begeisterung“, antwortete der Fahrgast nachdenklich. „Na so was! Auf der Suche nach Begeisterung … Vielleicht finden wir ja...“ Die ganze nächste Woche erzählte der alte Kutscher von seinem nächtlichen Gast, den er so gut ausgetrickst hatte. Das ist doch keine Kleinigkeit – zwei Goldstücke! Beim Erzählen übertrieb er so sehr, dass seine Zuhörer sicher waren, dass der Teufel selbst in der Kutsche saß. Nach drei Monaten kam ein Junge zur Kutsche und gab ihm einen offenen Umschlag. Der alte Mann drehte den Umschlag in seinen Händen hin und her und gab ihn dem jungen Briefträger dann wieder zurück. Er wurde bestimmt mit einer anderen Person verwechselt. Nach und nach stellte sich aber heraus, dass sich der seltsame Fahrgast wieder gemeldet hatte. Zwei Karten für ein Sinfoniekonzert waren sein Geschenk. Seine Kumpel betrachteten ihn mit neidischen Blicken. Er gab dem Jungen ein paar kupferne Heller. „So was! Er hat mich nicht vergessen!“, sagte der alte Kutscher später, als er sich vor dem großen Spiegel fertig machte. Er stand da in seinem besten Ausgehanzug. „Dich Alte hat er auch eingeladen! Vergiss nicht, Deine Perlenkette anzulegen!“ „Perlenkette?“, brummte seine Frau, „Ich habe nur Glasperlen.“ „Macht nichts, das merkt doch niemand. Wir werden in der ersten Reihe sitzen, wie die Herrschaften auch! Und die tragen nur echten Schmuck.“ Der Kutscher musterte seine herausgeputzte Frau von oben bis unten und war mit ihrem Aussehen zufrieden. „Wie eine Baronesse“, meinte er. Zu Hause nach dem Konzert war der alte Mann einsilbig, seine Frau dagegen redete wie aufgezogen. Sie wollte herausbekommen, ob er unter den gut gekleideten Herrschaften seinen Fahrgast erkannt hatte. „Ich habe dir schon tausend Mal gesagt: Es war dunkel. Und er ist ein ganz normaler Mensch. Nichts Besonderes. Sag Du doch lieber, ob Dir das Konzert gefallen hat.“ „Die Musik war zu laut“, sagte die ungebildete Frau ehrlich, „ich bin fast taub geworden.“ „Hast du etwa nicht gehört, wie im ersten Akt die Schellen getönt haben? Genauso wie das Getrappel der Hufe meines Pferdes. Und am Anfang des zweiten Aktes hat die Trommel so beunruhigend geschlagen! Ich hatte das Gefühl, als ob ich wieder mit dem Komponisten im Wald wäre. Ja, hätte ich damals keine Laterne mitgenommen, so wäre unser Komponist verschwunden und die heutige Premiere erst gar nicht gewesen. Damit gehört im Grunde genommen die Hälfte seines Erfolges mir, dem Kutscher!“ „Dein Fahrgast hat vielleicht Geld wie Heu!“, dachte die Frau an etwas ganz Anderes. Der Alte hörte sie aber nicht: „Und wie im letzten Akt die Waldhörner gespielt haben! Und die Geigen! Weißt du was? Es schien mir wirklich, als ob ich am Schwanensee diese königlichen Vögel gesehen hätte. Verwunderlich ist das alles. Wir haben doch in Wirklichkeit keine Schwäne gesehen. Die sind auch nie da gewesen. Wie konnte er nur solche Schönheit erahnen? Oder hat er vielleicht mit dem Herzen gefühlt?“ „Geh du mal besser schlafen!“, sagte die Frau, die sich bei der schlimmen Vorahnung unwohl fühlte. „Es ist schon zu spät.“ Der alte Kutscher schloss die Augen und konnte kaum seine Tränen unterdrücken. „Ich bin ein so niederer Mensch“, konnte sich der Alte nicht beruhigen, „der Mann ist auf der Suche nach Begeisterung gewesen, und ich habe drei Goldstücke von ihm verlangt! Ich habe gedacht, er geht nicht darauf ein ...“ „Hättest du besser weniger Geld genommen!“ „Still, Alte!“, schrie der Kutscher seine Frau zum ersten Mal im Leben an, „Ich habe ihm alles bis auf den letzten Groschen weggenommen. Dieser Mensch hat mir ein anderes Leben gezeigt, und ich habe mich wie ein Straßenräuber benommen!“ Die ganze Nacht konnte der Kutscher nicht schlafen. Seine Frau betete und versteckte dreimal sicherheitshalber das Geld an einem neuen Platz. „Zwei Karten fürs Konzert hat er mir noch geschenkt!“, warf er sich vor, „Mir, dem schlechtesten Menschen auf Erden!“ Seitdem hat sich nichts in seinem Leben geändert. Er stand mit seiner Kutsche wie früher am alten Platz und wartete bis zur Nacht auf seinen letzten Fahrgast. Jetzt aber würde er ihn umsonst fahren. Ihn oder jeden anderen, der sagen würde: „Lass uns fahren auf der Suche nach Begeisterung!“

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