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Märchen meines Großvaters

Zwei Einsame

Menschen treffen sich an Kreuzungen. Nach einem Blick, einem Lächeln oder einem Händedruck trennt man sich wieder. Vielleicht für immer. Eines Tages trafen sich aber zwei Einsame für einen kurzen gemeinsamen Tag. Der Alte war aufgrund seines schwierigen Charakters und seines unbändigen Temperaments einsam. Der kleine Junge aber, weil er Waise war. So gingen sie also schweigend Hand in Hand. Es ging schon auf den Winter zu und schneite. Der Junge war erkältet, hustete und der starke Wind fegte seinen Husten mit sich. Sie mussten eine Bleibe finden. Das Feld ging bis zum Horizont und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als in einem Heuschober zu übernachten. Der Alte warf das Heu auseinander und machte Platz für die beiden. Der kleine Junge wusste nicht, wie er den Mann nennen sollte: Ob Opa oder Onkel. Deswegen vielleicht kam so etwas Kindisches wie „Opkel“ heraus. „Opkel“, sagte der kleine Junge, „mir ist kalt.“ „Gleich wird dir warm, du Kleiner. Der Hagebuttentee bringt dich schnell auf die Beine. Fürs Erste ziehe aber meinen Mantel an und setze meinen Hut auf!“ „Danke! Und du?“ „Mache dir keine Sorgen um mich“, sagte der Alte lächelnd und zog dem Kleinen seinen Mantel an, „mit mir kann ja nichts Schlimmes passieren, weil schon alles passiert ist.“ „Erzähle mir von dir!“, schaute der kleine Junge den Alten mit geschwollenen Augen an. „Nicht jetzt. Ich mache erst Feuer und gebe dir Tee zu trinken. Und vielleicht dann ...“ Es war schwer, sich vorzustellen, dass sich die beiden zufällig getroffen hatten. Sie waren ja so verschieden: der eine war schon an der Neige seines Lebens, der andere aber noch am Anfang seines Lebensweges. „Über sich zu erzählen heißt, Vergessenes wieder hervorzuholen“, sagte der Alte und legte sich neben den kleinen Jungen, „lass mich dir lieber von fernen Ländern erzählen, wo ich schon mal war.“ „Warst du auch in warmen Ländern?“ „Natürlich. Von dort bin ich gerade gekommen. Hier, iss!“, der Alte gab ihm ein Stück Brot, „und höre zu. In Übersee scheint die Sonne das ganze Jahr hindurch. Und was wirklich Neid weckt, ist die Hitze dort, so dass man zu jeder Jahreszeit ausgesorgt hat. Man braucht weder Pelz, noch Mütze, noch Stiefel.“ „Das ist aber gut!“, schnaufte der kleine Junge. „Wachsen die Bananen dort wirklich an den Bäumen?“ „Die volle Wahrheit. Auf den Palmen, so werden die Bäume genannt. Die Bananen schmecken aber nach unseren süßen Kartoffeln.“ Er erzählte lang und ausführlich. Nur selten unterbrach ihn der kleine Junge, um eine Frage zu stellen. Der Alte war ihm aber nicht böse, im Gegenteil, er lobte seinen dankbaren Zuhörer und fasste ab und zu an dessen verschwitzte Stirn. Das Fieber war gefallen. Der Alte freute sich innerlich und erzählte weiter und weiter. „Und das Meer? Wie sieht dort das Meer aus?“, fragte der zukünftige Reisende. „Wie überall. Das Meer ist hellblau mit weißer Gischt. Und manchmal blau, wie deine Augen.“ „Kann man dort gut leben?“, fragte der Kleine neidisch. „Gut ist es nur dort, wo keiner ist. Ich jedenfalls, möchte wieder schnell nach Hause zurückkehren, egal wo ich mich befinde.“ „In unseren Winter?“, war der kleine Junge ungläubig. „Ja, in unseren Winter. Wir haben den besten Winter, den es nur geben kann. Glaub mir.“ „Ich glaube dir“, flüsterte der Kleine und schlief ein. Was er in der Nacht träumte, weiß niemand. Selbst er erinnerte sich nicht mehr daran. In den Mantel eingewickelt, schlief er ruhig wie ein Säugling in der Wiege. Der Alte umarmte ihn und dem Kleinen wurde warm. Manchmal schmatzte er im Traum und murmelte etwas Undeutliches. Der Morgen kam. Der kleine Junge wachte auf und gähnte süß. Schon lange hatte er sich nicht mehr so gut gefühlt. Er drehte sich zum Alten um: „Opkel, Opkel! Schläfst du noch? Wach auf! Lass uns gehen!“ Der alte Mann reagierte nicht und starrte vor sich hin mit gläsernen Augen. Als der Kleine verstand, dass er alleine war, erschrak er sehr und saß lange unbeweglich da. Danach fing er an zu weinen und die kalten Hände seines neuen und schon für immer verlorenen Freundes zu streicheln. Gegen Mittag stand er auf und zog den Hut des Alten ab. Er ging in die warmen Länder, um schließlich wieder nach Hause zurückzukehren. „Wir kommen alle in diese Welt und verlassen sie in Einsamkeit“, wiederholte er die Worte seines Freundes, die er gut im Gedächtnis behalten hatte, „Das Ziel unseres Lebens liegt darin, dass wir denjenigen finden und nicht verlieren sollen, der uns von der Einsamkeit befreit.“

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