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Bühnenstücke

Bühnenstück "Martin Luther - Magister der freien Künste"

Genre: Dokumentation, Drama

 

In seinen Erinnerungen erwähnte Martin Luther mehrfach die Stadt Erfurt als ein „fruchtbar Bethlehem“.

Hier studierte er von 1501 bis 1505 an der Universität, aber schon bald nach Beendigung des Studiums wählte er einen für sich und alle Freunde unerwarteten „neuen Weg“. Er wurde Mönch im Augustinerkloster. Was war aber der wahre Grund seiner Entscheidung, sein Leben ausschließlich Gott zu widmen?

Die Handlung des Bühnenstücks findet in den letzten Jahren seines studentischen und weltlichen Lebens in Erfurt statt. Als er sich in ein Wirtshaus aufmacht, um im Kreise seiner Freunde die Verleihung seines zweiten wissenschaftlichen Titels zu feiern, besucht ihn unerwartet ein Schüler der Lateinschule aus Eisenach, der Stadt, die Luther selbst als seine Lieblingsstadt bezeichnete.

Das Treffen mit diesem Unbekannten verändert für immer die alte Welt, die bald von der katholischen zur evangelischen wird! Nur: Wer verbirgt sich in der Gestalt des Schülers der Lateinschule? Das zu erfahren steht uns bevor.

Die historischen Personen sind erstarrt hinter den Kulissen der damaligen Zeit und warten nur darauf, dass das Licht im Zuschauerraum erlischt, damit sich der alte und staubige Vorhang öffnet. Hören Sie ihre Stimmen? Ich kann sie schon hören...          

                                                                                             Sergiu Ianachi

 

 

Handelnde Personen:
1. Martin Luther (22 Jahre)
2. Crotus Rubianus,
Kommilitone Luthers (25 Jahre)
3. unbekannter Lateinschüler aus Eisenach (37 Jahre)


In der Studentenburse. Ein großes Zimmer für fünf Personen. Durch ein paar Fenster scheint Abendlicht in den kalten und dunklen Raum. Rechts und links stehen die Betten der Studenten. Zwei Bänke stehen am gemeinschaftlichen langen Tisch. Ein hölzernes Kruzifix hängt mittig an der Wand. Ins Zimmer kommt gerade Crotus Rubianus herein.

C
rotus:         Nun, was machst du so lange herum, Martin! Alle warten längst auf dich!
Martin:         Gleich!
Crotus:         Beeil' dich!
Martin:        
Nun, du siehst doch, dass ich fast fertig bin. Ich kann meinen Dolch nicht finden!
Crotus:         Wozu brauchst du ihn jetzt?
Martin:        
Wo hast du jemals einen Studenten ohne Dolch gesehen?
C
rotus:         Eigentlich hast du recht, das habe ich auch noch nicht gesehen. Aber ich denke, du

wirst ihn jetzt nicht benötigen. Nimm halt derweil meinen!

                streckt ihm seinen Dolch entgegen
Martin:       
sucht weiter

                     Deinen brauche ich nicht.
Crotus:         Das dauert jetzt vielleicht noch eine
Ewigkeit, den zu suchen.
Martin:         Mir scheint, ich habe jetzt überall nachgesehen.
Crotus:        
besieht sich die Unordnung

                Du hast das ganze Zimmer umgestülpt. Das kannst du so nicht machen! Hej,

                Dolch, wo bist du?
Martin:        
böse

                Ja, wo soll er denn noch sein?
Crotus:         Im Wirtshaus tummeln sie sich alle schon.

Martin:         Auch wir kommen noch zum Feiern. Mach dir da keine Sorgen!
Crotus:         Du hast doch gesagt, dass dein Vater ein großer Geizhals ist. Wer hätte gedacht, dass

                er so einen Batzen Geld für dieses Ereignis lockermacht?
Martin:         Das ist ja aber auch nicht meine Feier!
Crotus:         Wessen Feier dann? Und welchen Titel feiern wir?  

Martin:         Eigentlich den meines Vater. Es geht nur um seinen Stolz.
Crotus:         Deshalb bist du so großzügig und willst alles bis auf den letzten Groschen aus
geben?
Martin:         Mein Vater besteht sogar darauf. Gestern habe ich einen Brief von ihm bekommen, in

                dem er mich zum ersten Mal mit Sie anspricht.
Crotus:        
bekreuzt sich

                     Heilige Anna! Dich mit Sie angeredet? Das kann nicht wahr sein!
Martin:         Ich bin selbst erstaunt.
Crotus:         Na, dann hast du es dir auch redlich verdient. Du bist mit dem Studium wie kein

anderer klargekommen. Und jetzt bist du der feine Herr, der Magister der freien

                Künste… Da ist der Herr Vater stolz auf seinen Sohn!
Martin:        
Ich sage es dir noch einmal: Mein Vater ist nur auf sich selbst stolz!
C
rotus:         Martin, du bist ungerecht. Er ist dein Vater, der dich … liebt. Und übrigens, du ihn                 auch.
Martin:         Rede nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst.

Crotus:         Vielleicht auf seine Weise, doch er liebt dich.
Martin:       
nervös

                     Crotus, halte du besser den Mund.
Crotus:         Habe ich etwas zuviel gesagt?
Ich kann doch sehen, wie du ihn vermisst!

Martin wirft seinen Hut in Crotus' Gesicht.

Crotus:         Du bist genau so stolz und selbstverliebt
wie dein Vater. Und noch etwas sage ich dir:                 Er hat ein ganzes Vermögen für dich verwandt, damit du lernen konntest. Hat also                 dein Alter nicht zumindest ein paar gute Worte verdient?
Martin:        achtet nicht weiter auf die letzten Worte seines Freundes

                     Mir scheint, wir sind in Eile!
Crotus:         Genau. Nimm die Laute mit!
Martin:         Und wozu?
Crotus:         Du sollst uns heute singen und aufspielen!
Martin:         Verzeih, doch ich habe weder Stimmung noch Stimme.
Crotus:         Und warum und überhaupt für wen dann die ganze Zeche?
Martin:         Müssen wir etwa unser ganzes Gespräch nochmal von vorn beginnen? Der Vater ...

Crotus: Schon wieder redest du von ihm! Was bist du merkwürdig, also wirklich!

 

Ein Glockenschlag ist  zu vernehmen.

 

                     Höre, es ist halb acht. Es ist Zeit, aufzubrechen! Noch ein Moment und die Tür zur                 irdischen Welt schließt sich für uns. Und das direkt vor unserer Nase. Los schon,

                Martin! Lass uns den Rest des Abends und die ganze geheimnisvolle Nacht in vollen

                Zügen         genießen! Ich sage dir, dass mir diese Mauern vor dem kommenden Trubel

                noch trauriger als sonst erscheinen.
Martin:         Es wird uns auch noch so ergehen, wenn wir in dieses Gemäuer zurückkehren.
Crotus:         Das ist ganz mein alter Freund Martin! Lass uns aber doch nicht so
traurig in unsere

                Zukunft schauen.
Martin:         Da gibt es kein Entrinnen! Gehen wir!
Crotus:         Ich stelle mir schon vor, wie dich alle Versammelten begrüßen werden: mit entzünde-                ten Fackeln und lauten Hochrufen zu Ehren des frischgebackenen Magisters.
Martin:         Und seines Freundes! Bald feiern wir auch deine Magisterverleihung.
Crotus:        geht zum Kruzifix und bekreuzigt sich

                Gebe es Gott!                                                                                                aber plötzlich tritt er zurück

                     Oh weh, Martin, so etwas habe ich nicht erwartet, selbst von dir nicht!
Martin:         Was habe ich nun schon wieder falsch gemacht?
Crotus:         Du
hast doch deinen Dolch gesucht. Ich habe ihn gerade gefunden.
Martin:         Wo denn?
Crotus:         Schau auf das Kruzifix. Die Klinge steckt im Herzen des hölzernen Christus.

                zieht den Dolch heraus

                So etwas ist Gotteslästerung, wofür man nicht nur aus der Kirche ausgeschlossen                 werden kann, sondern auch mit dem Leben bezahlt!
Martin:         Ich weiß nicht, wie das passieren konnte!
Crotus:         Nun, ich verstehe noch, wenn der junge Baccalaureus den Dolch aus purer                         Langeweile auf das Kreuz wirft, aber eines Magisters ist dies nicht würdig. Schäm'                 dich!
Martin:       
scheinbar reuig        

Ich schäme mich!
Crotus: An deine Reue kann ich nur schwerlich glauben, für solch eine Sünde sollst du mir mit einer anderen … Sünde bezahlen.

Martin:         Du wolltest sagen, mit Gelübde und Fasten?
Crotus:         Suche keinen leichten Ausweg! Eine schwere Sünde wäscht sich nur mit etwas                         Schwerem ab. Also mach dich gefasst, Martin!
Martin:         Ich bin immer gefasst.

C
rotus:         Dann schwöre mir, dass du den heutigen Abend in solcher Ausschweifung und                         solchem Laster verbringst, was unsere fromme Universität noch nicht kannte.
Martin:         Ich fürchte, Crotus, du stellst mich vor eine unlösbare Aufgabe. Doch, Gott sei Dank,                 habe ich gewisse Erfahrung. Das ist nicht das erste Mal für mich...
Crotus:        
mit Pastorenstimme

                Ich verzeihe dir vorab alle Sünden, in Gegenwart und Zukunft. Möge es so sein.
Martin:         Amen.

Rubianus und Luther gehen zur Tür.

Crotus:         Ach ja, fast hätte ich es vergessen!
Stell' dir vor, als ich aus dem Gasthaus zu dir

                eilte, traf ich an der Tür unserer Burse einen Lateinschüler. Was meinst du, wenn er                 treffen wollte!
Martin:         Ich weiß es nicht.
Crotus:         Dich!
Martin:         Mich? Warum?
Crotus:         Das ist mir nicht bekannt.
Martin:         Machst du Scherze?
Crotus:        
Ich würde dich gern zum Lachen bringen, aber ich fürchte, dass ich dann selbst

                leide. Deine Zunge ist bekanntlich messerscharf!
Martin:         Ich habe ein solches Talent nie an mir bemerkt! Ich
verstehe überhaupt nichts. Was

                für ein Lateinschüler denn?    
Crotus:         Irgend so ein Junge.

Martin:         Hast du ihn fortgeschickt?

Crotus: Ja und auch nein.
Martin: Und was wollte er von mir?
Crotus: Das sagte er mir nicht, er sagte nur, dass er dringend den Baccalaureus Luther sehen

muss.
Martin: Und du?
Krotus: Ich sagte, dass ich einen solchen Studenten überhaupt nicht kenne.

Martin:         Wie, „kennst mich nicht“?
Crotus:         Ganz einfach.
Ich kenne den Magister der freien Künste Luther, und nicht etwa

                     irgendeinen Baccalaureus mit einem ähnlichen Namen.
Martin:         Dann bringe ich heute meinen ersten Trinkspruch auf den zukünftigen Magister                         Crotus         Rubianus aus.
C
rotus:         Niemand hat dich dazu aufgefordert. Schade nur, dass ich, selbst wenn ich auch                         Magister werde, doch nicht lerne, auf der Laute so zu spielen wie du.
Martin:         Unsinn. Strenge dich an, Crotus, und alles wird dir gelingen. Gehen wir!
Crotus:         Warte!
Martin:         Jetzt hältst du uns auf!
C
rotus:         Also was ist mit dem, der dich heute unbedingt sehen möchte?
Martin:         Redest du von Gertrud?                                                                           

Crotus:         Ich habe jetzt nicht sie gemeint. Übrigens, ist sie eingeladen?

Martin:         Könnte ich nur versuchen, sie eine Zeitlang zu vergessen … weißt du, was dann                         passieren würde? - Und obendrein bringt sie auch noch ihre Freundin mit.
Crotus:         Eine Hübsche?

Martin: Sicher.

Crotus: Es ist eben gut, dass du einen treuen Freund hast, der sich für dich in die Bresche

schlägt. Wieviel hast du dem Wirt gezahlt?
Martin: Wir sind bei der Summe verblieben, die er mir von Anfang an genannt hat.
Crotus: Und du hast noch nicht einmal mit ihm gehandelt?
Martin: Nein.
Crotus: Was bist du für ein Bauernsohn, zum Teufel nochmal! Dir tut es scheinbar nicht um

                einen Groschen leid!
Martin:        süffisant

                    Wenn es um die Freunde und den Vater geht, spare ich eben nicht.
C
rotus:         Dafür mögen wir dich vielleicht auch so sehr, Martin. Auf ins Wirtshaus!
Martin:         Und was ist mit dem Abendgebet?
Crotus:         Ich habe schon gebetet, für mich und für dich und, stell' dir vor ... für alle!
Martin:         Wann denn?
Crotus:         Letzte
Woche, erinnerst du dich, stand ich ganze zwei Minuten am Altar und habe so

                wahnsinnig gebetet, dass der Heilige Vater dachte, dass ich entweder von einem                         Engel oder von einem Dämon besessen sei.
Martin:         Und jetzt?
Crotus:         Jetzt haben wir keine Zeit. Ja, und unsere Kräfte sollten wir uns auch aufsparen ...

 

Rubianus öffnet die Tür und sieht den unbekannten Lateinschüler.

Crotus:         Du bist noch hier?
Martin:         Wem sagst du das, Crotus?
Crotus:         Dem Lateinschüler.
Stell' Dir vor, steht vor der Tür und horcht uns aus!
Martin:         Also ist der Schüler hier?
Crotus:         Steht auf unserem Flur.
Martin:         So sehr zur unrechten Zeit!
Crotus:         Was soll ich ihm sagen?
Martin:         Spar dir die Worte. Dann soll es so sein. Soll er reinkommen!

Crotus:         Vielleicht sollte er morgen wiederkommen?
Martin:         Du weißt doch, dass wir alle morgen eher unpässlich sind!

Crotus:         Dann schicke ich ihn nun weg.
Martin:         Nein. Lass ihn hereinkommen!
Crotus:         Wir verlieren nur unnötig Zeit! Wir sind so schon zu spät dran. Ich kann schon den
                Bursenvater kommen hören. Gleich schließt er die Tür ab und es ist aus für uns!
Martin:         Übertreibe mal nicht! Unser Gespräch braucht höchstens eine Minute oder zwei!

Crotus: Beeile dich! Wenn nicht, sage ich es Gertrud. Ich warte vor der Tür auf dich!

                wendet sich an den Unbekannten

                Der Magister der freien Künste Martin Luther wartet auf dich!
Lateinschüler:
Ich danke!

                betritt den Raum
Martin:         Was möchtest du?

Lateinschüler: Guten Abend!
Martin:         Ja, guten Abend! Aber bitte schnell zur Sache!
Lateinschüler: Sind Sie sehr in Eile, Herr Magister?
Martin:         Sehr. Man sagt, du seist von Eisenach gekommen. Kein gerade kurzer Weg.
Lateinschüler: Das ist wohl wahr, verehrter Magister! Ich habe für den Weg
drei Tage und zwei

                schlaflose Nächte gebraucht.
Martin:         Und was hat dich denn zu mir geführt?
Lateinschüler: Oft ist es nicht der Wissensdurst, sondern die Neugier, die uns auf einen gefährlichen

                        Weg treibt, nicht wahr, lieber Magister?
Martin:         Was sagst du ständig Magister, ja, Magister? Nenne mich einfach Martin!
Lateinschüler: Welche Ehre für mich, Magister!
Martin:         Also, welche Neugier gibt dir Tag und Nacht keinen Frieden?
Lateinschüler: Die Neugier, die
stärker ist als ich und den Schüler dazu anhält, das Wissen seines

                Lehrers zu übertreffen.
Martin:         Hast du etwa einen Brief von meinem Lehrer gebracht?

 

Ohne eine Antwort abzuwarten, denkt Luther laut nach.

 

                        Sonderbar, ich hätte nie gedacht, dass ich jemals einen Brief von dem bekomme, der

                        mich so gehasst und verachtet hat.
Lateinschüler: Nun, die Sache liegt darin …

Martin:         unterbricht

                Sonderbar, aber deine Stimme scheint mir vertraut, obwohl ich dich nicht erkenne.

                        Sind wir uns jemals begegnet?
Lateinschüler: Sie, Magister, sind doch zu der Schule gegangen, an der ich jetzt lerne. Wir werden

alle noch einmal stolz auf diese Tatsache sein!

Martin:        Was für einen Unsinn du redest! Hast du mich wirklich in der Schule gesehen?
Lateinschüler:
Ja.
Martin:         Aber ich kann mich nicht an dich erinnern
. Es ist so dunkel hier. Gehe mal rüber                 zum Fenster, damit ich dich besser anschauen kann.
Lateinschüler:
empört

                Wieso mich anschauen? Ich bin doch kein Fräulein!
Martin:         Wohl wahr. Gib den Brief schon her!
Lateinschüler: Ich habe aber keinen Brief … ich habe ihn verloren.
Martin:         Du spricht darüber so, als seiest Du noch stolz darauf! Aber den Boten schickt man                 nicht auf den Weg, ohne ihn über die Worte des Adressaten in Kenntnis zu setzen.                 Habe ich recht?
Lateinschüler: Sie haben wie immer recht, Magister, aber zum Unglück habe ich alle Worte auf dem                 Wege vergessen.
Martin:        Vergessen?
Lateinschüler: Leider.

Ins Zimmer kommt Rubianus.

Crotus:         Nun, was, "Philosoph", ist dein Empfang zu Ende?
Martin:         Ich habe noch gar nicht angefangen! Schau' dir diesen ungeschickten Boten an. Er                 sollte mir einen Brief überbringen, hat ihn aber verloren. Und die Worte vom Autor                 dieses Briefes hat er auf dem Wege vergessen.

Crotus:         Was, alle?
Martin:         Stell' dir vor!
Crotus:         Nicht ein Wort ist in seinem hohlen Kopf hängengeblieben?
Lateinschüler: bestätigt fröhlich

                     Nicht eines!
Crotus:         Du bist der Dümmste von allen, die ich kenne.
Lateinschüler: Und von allen, die Sie nicht kennen.
Crotus:         Rede bloß nicht weiter! Solche Schüler sollte man von der Schule jagen!                                
wendet sich an Martin

                Philosoph, noch ein paar Minuten und wir stecken in der Falle!
Martin:        geht schon zur Tür und kommt wieder zum Lateinschüler zurück

                     Nun, nehmen wir an, du hast alles vergessen, so antworte, von wem du mir den                         Gruß ausrichten sollst.

Crotus:        Wie man so sagt, Dank wenigstens dafür. Mit der Zeit erfährst du alles von dem                         Brief, Martin. Was schaust du mich so gespannt an, Lateiner? Antworte: von wem                 war die Nachricht aus Eisenach?                    
Martin:         Was bist du so grob mit ihm, Crotus?!

 

Crotus achtet nicht auf Martin und fährt fort.


Crotus:         Bist du taub? Ich frage dich, von wem also?
Lateinschüler: Diese Nachricht ist nichts für große Ohren.
C
rotus:         Was hast du gesagt?
Lateinschüler: Ich kann es auch wiederholen.
Crotus:         Du setzt deine Gesundheit aufs Spiel!
Lateinschüler: Dem, der seit Geburt nicht nur große Eselsohren hat, sondern auch eine lange und

                        sehr neugierige Nase, dem werde ich kein Wort sagen.
Crotus:        Ich schwöre bei allen Heiligen, gleich kriegt er sein Fett ab!
Martin:        Wofür?
Crotus:         Hast du etwa nicht gehört, was dieser Lateiner mir soeben an den Kopf geworfen

                        hat?
Martin:         Und was denn?
Crotus:        Er hat auf meine langen Ohren angespielt.
Lateinschüler: Ich habe nicht darauf angespielt.
Crotus:         Ach, er hat nicht darauf angespielt! Er hat es sogar direkt gesagt!

 

Crotus geht zum Schüler und möchte ihm eine Backpfeife geben.


Martin:       
Beruhige dich, Crotus! Das ist doch ein Missverständnis. Nicht wahr?
Lateinschüler:        Natürlich ... nicht, Magister.
Crotus:        Nun, was habe ich dir gesagt? Ich werde ihn gleich was lehren!                      

Lateinschüler: Was die Ohren angeht, bin ich bereit, alle meine Worte zurückzunehmen.
Martin:        Siehst du, Crotus, er selbst bereut alles!
Lateinschüler: Wenn einer so eine lange Nase hat, kann man ja über die Ohren schweigen.
Crotus:        
Na, warte, du gebrechliche Seele, du wirst nicht mehr lange in deinem zornigen

                        Körper schmachten. Bete um Gnade!
Lateinschüler: Für Sie gerne.                               
Crotus:        Ich bring dich gleich um, und die Leiche werfe ich in den Fluss. Zur Freude der        
                Krebse.
Lateinschüler: Erschrecke den Furchtlosen nicht!
Crotus:        Kleiner als ein Floh, aber beißt wie ein gerissener Wolf!
Martin:        Nun, genug der Rumalberei! Also, von wem ist die Nachricht, Schüler?

 

Pause. Der Schüler schweigt.

 

                       Lass uns allein, Crotus!

Crotus:        beleidigt

                       Störe ich euch?

                Martin schweigt

                Nun, wie du weißt, Geheimnisse anderer brauche ich nicht.  
Martin:        Vielleicht ist es Zeit, eine Kerze anzuzünden.
Crotus:        Was für eine Kerze verdammtnochmal! Bist du verrückt, man erwartet uns bereits!
Martin:       
zündet eine Kerze an

                Geduld, mein Freund. Dann schaffen wir alles.
Crotus:        Nun, gut.
Aber nur zwei Worte, und dann führe diesen Lateiner hinaus, "Philosoph".

Rubianus geht aus dem Zimmer.

Lateinschüler: Philosoph? Warum Philosoph?
Martin:        Das ist mein Spitzname.
Lateinschüler: Sich an der philosophischen Fakultät einen solchen Titel einzuhandeln, ist

                sicherlich nicht einfach.
Martin:        Mich hat auch niemand
gefragt, ob mir dieser Titel gefällt oder nicht.
Lateinschüler: I
ch wäre eine Stolze, wenn man mich so nennen würde!
Martin:        Du wolltest sagen, ein Stolzer!

Lateinschüler: Ja, ich habe mich versprochen. Natürlich ein Stolzer.
Martin:        Aber der Stolz ist vielleicht die Schwerste aller Sünden, der Beginn aller Sünden und

                 Verbrechen. Der Samen, aus dem das Böse gedeiht, das sich dann schnell ausbreitet.

                        Und es gibt keine Rettung für die verirrte Seele.
Lateinschüler: Ich finde, dass Sie den Titel des Philosophen zu Recht tragen.
Martin:        Aber näher zur Sache. Wer war es denn, von wem ich nunmehr keine Neuigkeiten

                bekomme?
Lateinschüler: Magister, sagt Ihnen der Name Cotta etwas?
Martin:        Wie hast du gesagt ... Cotta?
Lateinschüler: Ja, und das sage ich zum letzten Mal.

Martin:        Die Familie kenne ich. Also, wer schickt mir einen Gruß?              
Lateinschüler: Und von wem hätten Sie einen Gruß, von ihm oder von ihr?
Martin:        wird sichtlich nervös

                Was geht dich das an? Antworte bloß auf meine Frage!
Lateinschüler: Ich habe Ihnen, Magister, doch den Adressaten genannt!
Martin:        Dir würde es wirklich nicht schaden, gute Manieren zu erlernen. Meine Zeit aber ist

                um.
Lateinschüler: Ich verstehe.
Sie eilen sicher zum Treffen mit der schönen Gertrud.
Martin:        Du hast also alles gehört?
Lateinschüler:
Die Tür war nicht ganz geschlossen, und ich bin ja nicht gerade taub.
Martin:        Und vor Scham versinkst du nicht im Boden, wie ich sehe.
Lateinschüler: Nächstes Jahr werde ich auch in die Universität eintreten, an die medizinische                         Fakultät. Und es würde nicht stören, vorher zu erfahren, was sich hier so tut. Und,                 sind die Mädchen in Erfurt besser
als die in Eisenach?
Martin:        tadelt den Schüler

                Du sollst hier lernen und nicht an verbotene Früchte denken! Denn das ist eine

                       Sünde.
Lateinschüler: Aber bemerken Sie, was für eine angenehme Sünde, mein netter Herr Magister!
Martin:        Mit tut es leid um dich, noch so jung, und schon so verdorben.
Lateinschüler: Auf Ihr Mitleid kann ich das Gleiche entgegnen. Was tun Sie mir leid, Magister

                        Martin Luther!
Martin:        Es wird immer schlimmer. Und warum meinst du, Mitleid mit mir haben zu müssen?
Lateinschüler: Sie suchen Freude dort, wo sie nicht war und niemals sein wird.
Martin:        Du hast auch vor, mich was zu lehren? Dann sage dir, dass der Lehrer in meinem

                       Leben zu viele waren. Und jeder wollte mir seinen Stempel aufdrücken. Niemandem                 ist es in all den Jahren in den Sinn gekommen, mich zu fragen, was ich in                         Wirklichkeit denke.
Lateinschüler:
Und worüber denn?
Martin:        D
ass die Welt nicht perfekt ist, und dass ich, als ihr Kind, in Sünde gezeugt bin und

                durch das Leben hin zum unvermeidlichen Ende gehe. Darum warum sich anhalten?

                Möge alles ablaufen wie früher, auf seine sündige und ausschweifende Weise.
Lateinschüler: Und wie steht es um die unsterbliche Seele?
Martin:        Aber du rühre meine Seele nicht an.
Was in ihr ist, ist selbst mir nicht bekannt.

                       Pause

                Doch wir sind abgeschweift. Nun sag schon, wer schickt mir Grüße aus Eisenach?

Lateinschüler: Verstehen Sie diese einfache Rede nicht? Vielleicht ist es mein Eisenacher Dialekt,                 ich kann es auch in Latein wiederholen, dass es jemand mit Namen Cotta ist, aus                 einer rechten, edlen, aber verarmten Familie, deren Geschlecht noch auf die                         Senatoren des alten Roms zurückgeht. Und der sich plötzlich entschieden hat, aus                 lauter Langeweile einen Brief zu schreiben. Aber hat es sich dann noch einmal anders                 überlegt und zerriss ihn. Und hat sich dann entschieden, einen Boten zu schicken.

Crotus:        tritt ein und steht in der Tür

                Nun, kommt ihr bald?
Martin:        Schließ' die Tür.
Crotus:         Was ist das für ein Ton?
Martin:       
schreit

                Tür zu!
Crotus:        Nun, gut, Magister, ganz wie du befiehlst.

                schließt die Tür laut hinter sich
Lateinschüler: Was für eine neue Stimmung? Ich
verstehe nicht. Was spielt das für eine Rolle, wer

                        genau euch aus der Familie dieser Patrizier schrieb?
Martin:        Wie lange willst du mich noch an der Nase herumführen?
Lateinschüler: Ich habe noch nicht einmal angefangen.
Martin:        Ich habe dich wahrscheinlich vorhin umsonst gerettet ...
Lateinschüler: Eine gute Sache getan und schon so früh bereut ...

Martin:        Es ist doch offensichtlich, dass Crotus stärker ist als du!
Lateinschüler: Auch der Schwache kann siegen, wenn sein Herz tapfer schlägt.
Martin:        Nennst du mir endlich den, der mir schreibt?

Lateinschüler: Nun, schreiben konnten entweder er, Conrad Cotta, oder sie,
Ursula Cotta.
Martin:       
spricht festlegend

                        So, also richtet mir Conrad Cotta durch einen Boten einen Gruß aus!
Lateinschüler: Und erwarten Sie von ihm eine Nachricht?
Martin:        Eigentlich nicht.
Lateinschüler:        Woher wollen Sie dann wissen, dass Ursulas Mann geschrieben hat?
Martin:        Ist es denn etwa nicht so?
Lateinschüler:  Sie antworten auf eine Frage mit einer Gegenfrage, Magister. Aber ich sage ihnen,

                         dass in dieser Welt alles möglich ist.
Martin:        Das heißt also, Ursula selbst hat dich gebeten, mir etwas auszurichten...
Crotus:       
eilt nervös ins Zimmer

                Die Zeit ist abgelaufen! Wenn wir uns jetzt nicht beeilen, so müssen wir uns die

                ganze Nacht die Geistesergüsse von diesem Schüler anhören.
Martin:        Geh allein.
Crotus:       
erstaunt

Martin, aber ohne dich macht die Feier keinen Spaß!
Martin: Auch ohne mich werdet ihr euch prächtig amüsieren. Du siehst doch, dass ich hier

                zu tun habe!
C
rotus:        Was bedeutet dir denn der Junge aus Eisenach, wenn deine Freunde und Gertrud auf

                dich warten?
Martin:        Geh fort!
Crotus:       
zornig

                Na, warte, Bauernsohn! Was bildest du dir ein? Pflüge besser den Acker und schaff'

                die Gülle fort, statt mit mir, einem Adligen, an einem Tisch zu sitzen!
Martin:        Stets zu euren Diensten, Crotus Rubianus.
Crotus:        Rufst du mich zum Duell heraus? Du Abscheu! Du Nichts!
Martin:        Nun, wenigstens die Zunge ist mutiger als der Feige.

Crotus:         Ich werde dir ...

Luther und Rubianus gehen eilig aufeinander los. Aber der Lateinschüler steht mutig zwischen ihnen.

Lateinschüler: Hört auf, ihr Streithähne! Ich bedaure, dass von eurer guten Stimmung nichts übrig

                        geblieben ist. Und das ist meine Schuld.
Crotus:       
Schüler, sei so gut und lass du uns jetzt alleine.
Lateinschüler: Niemals werde ich zwei wütende Männer sich selbst überlassen. Bittet erst gar nicht

                        darum!
Martin:       
bedauernd       

                Es ist schade, dass du es nicht geschafft hast, mir alles zu erzählen, aber wir verab-

                schieden uns nun für alle Fälle.

Crotus:        Dann schau zu, wie ich mit dem Magister fertig werde!
Martin:        Wer sich zu früh r
ühmt, zittert immer vor Angst.
Lateinschüler: Ich beschwöre euch im Namen eurer Mütter, Schwestern und Ehefrauen, aufzuhören.
Crotus:        Was
für Frauen? Was redest du da!

Lateinschüler: Die einst Geliebten. Vergießt kein Blut, nicht das eigene und nicht das eines anderen.

                        Nun, streitet untereinander, wie alle Freunde. Ich bitte euch: Vergesst die vergange-

                nen Kränkungen und schüttelt euch zum Zeichen der Versöhnung die Hände.
C
rotus: Nie.
Martin:Um nichts auf Erden!
Lateinschüler: Was habe ich getan! Doch wenn euch etwas heilig ist in diesem Leben, so haltet ein!
Crotus:Das Heiligste für uns Männer ist die Ehre.
Martin:
Zumal die unbefleckte Ehre!
C
rotus:
Ach, Bauernsohn, du bist schon tot.
Martin:
Wir sind alle lebendige Tote. Denn am Tode kommt keiner von uns vorbei.

Der Lateinschüler steht tapfer zwischen den Konfliktparteien und versucht mit letzter Anstren-gung, einen blutigen Kampf zu verhindern.
Lateinschüler: Eure männliche Ehre ist eine teuflische Erfindung. Erinnert euch daran, wer wegen

                        euch gelitten hat und qualvoll gestorben ist!
C
rotus: Wer?
Lateinschüler: Im Namen Christi bitte ich darum, dass ihr euch wieder versöhnt, dass Sein Blut                 nicht umsonst vergossen sei. Ich bete um Barmherzigkeit.  
Crotus: Zum Blut des Retter vergieße ich das Blut des Magisters.
Martin:
Und ich werde dein blaues Blut auf seine Farbe prüfen.
Lateinschüler: Nun, vielleicht ist für euch ein anderer Name heilig?
C
rotus:Einen solchen Namen kenne ich nicht.
Lateinschüler: Und Sie, Magister?
Martin:Selbst unter Folter werdet ihr ihn nicht hören.
Lateinschüler: Bewahren Sie ihn wie auch bisher in Ihrem Herzen. Möge das menschliche Geheim-

nis Ihr Ideal erhalten, aber ich beschwöre Sie, denken Sie darüber nach, wie sie ihm

in die Augen sehen werden, wenn Sie aus Ehrgeiz auch nur einen Tropfen unschuldi-

                gen Blutes vergießen.
C
rotus: Auch dein Engel Gertrud wird dich jetzt nicht retten.
Martin:Sie hat damit nichts zu tun!
Crotus: Selbst die Sünder versuchen, heilige Gaben zu erlangen!
Martin:Noch ein Wort, Crotus, und ich werde meinen Dolch ziehen.

Crotus:Du dreckiger Bauernsohn. Und dein Vater ebenso!

 

Martin zieht den Dolch.

 

Lateinschüler: Haltet endlich ein! Ich kann euch nicht mehr aufhalten.

 

In seiner Ohnmacht beginnt der Schüler zu weinen.


Crotus: Du bist ein guter Kerl, Lateiner. Nur weine nicht, ich bitte Dich.
Martin:Wir sind beide nicht eine deiner Tränen wert.
C
rotus:
ermuntert den Schüler und versucht, ihn zu umarmen

           Du bist doch ein Mann, Schüler, nicht wahr! Aber was für ein Kümmerlicher.
Martin:Du solltest etwas zurückhaltender mit deinen Gefühlen sein, mein Bote aus Eisenach.

Lateinschüler: Lehrt mich alle soviel, wie in mich hineingeht, nur versöhnt euch lieber!
Crotus: Nein.
Martin:Nein.
Lateinschüler: Dann werde ich euch zum Trotz jetzt wie ein kleines Mädchen weinen.

Die Männer beenden ihren Widerstreit und beginnen, so gut sie können, den Lateinschüler zu trösten.

Crotus:ermutigt den Schüler und versucht, ihn zu umarmen

                        Hör auf zu flennen! Ich hasse dieses Zetern.
Martin:Weine wenigstens etwas leiser!

Lateinschüler: Ich kann nicht.
Crotus: Warum?
Lateinschüler: Weil ich Angst vor euch habe.
Martin:Was hast du getan, Crotus? Der Junge ist zu Tode erschrocken.
Crotus:Wer: ich? Du bist nicht besser. Du hast deinen Dolch gezogen. Vielleicht hast du ihn

                        ja verletzt!?
Martin:Das kann nicht sein. Denn ich habe an der Klinge gehalten, der Schüler aber am Griff.                
Crotus:Unser Schüler ist jetzt völlig vom Leim. Hörst du, wie erbärmlich er heult?
Lateinschüler: Ihr hartherzigen und seelenlosen Wesen! Ich will euch nicht mehr sehen! Und sage

                        Ihnen nicht, Magister, was Ursula Cotta mich gebeten hat, auszurichten.
Martin:hält sich nicht mehr zurück

            Also kommst du von ihr? Warum hast du das bisher verschwiegen?
Lateinschüler: Sie haben gut reden. Sie hätten mich fast umgebracht!
Martin:drückt den Lateinschüler an sich

Ach, mein furchtsamer Lateiner!
Crotus:wiederholt mehrmals den Namen der Unbekannten

                Ursula Cotta. Den Familiennamen kenne ich nicht, aber der Vorname ...
Martin:Schweige. Kein Wort mehr!
Crotus:Du wiederholst den Namen Tag und Nacht. Wie das Vaterunser habe ich ihn auswen-

dig gelernt. Du bist schon von ihm verrückt geworden!
Martin:Bitte erwähne den Namen nicht zwischen Tür und Angel, wenn dir alles wichtig ist,

                        was uns früher verband, mein Freund.
Crotus: Freund!? Was für neue Töne!
Martin:Verzeih mir.
Crotus: Niemals.
Martin:Dann lass uns bitte allein.
Crotus: Ich gehe jetzt ins Wirtshaus und werde für dein Geld auf dich trinken, auf dass du nie                 wieder Frieden findest, mein Bauernsohn.

 

Crotus geht weg und knallt laut mit der Tür.

 

Pause.

Lateinschüler:        Er wird Ihnen verzeihen, glauben Sie meinem Herzen. Vielleicht nicht heute, so doch

                        bestimmt morgen.
Martin:Und trotzdem schade, dass du Ursulas Worte vergessen hast.
Lateinschüler: Auch mir tut es leid, glauben Sie mir, Magister.
Martin:So lange habe ich auf eine Nachricht von Eisenach gewartet! Mehr als vier Jahre und

jetzt ... und du. Nun, da ist nichts zu machen. Trotzdem: wie weh es tut!
Lateinschüler:        spricht mit heiserer Stimme und versucht, seine innere Erregung zu verbergen

                Nun, ich muss gehen. Sonst wird sich wirklich die Tür schließen und ich muss mit

                        euch bis zum Morgen warten.
Martin:Aber sage mir wenigstens mit ein paar Worten: Ist sie gesund und munter?
Lateinschüler: Als ich fortging, war alles in Ordnung. Wie es jetzt ist, weiß ich nicht.
Martin:Ehre dem Schöpfer! Möge er so lange wie möglich Ursula und die ganze Familie

                        erhalten. Und möge nichts ihre heilige Seele bedrücken.

                Pause

Aber wenn du bis jetzt nicht in der Lage bist, dich an ihre Worte zu erinnern, so sage mir, was in ihrem Herzen ist.

Lateinschüler: Ich kann nicht sagen, was in Ursulas Herzen ist. Das ist ein Geheimnis.
Martin:Aber du hast in ihr Gesicht gesehen!
Lateinschüler: spricht gleichgültig       

                       Nun, das habe ich. Was ist damit?
Martin:Ich sehe, dass du nichts verstanden hast.
Lateinschüler:        Und was sollte ich verstehen?

Martin:Dass du die beste der besten Frauen auf der Erde gesehen hast.
Lateinschüler: Warum solche Übertreibungen?
Martin:Schweige besser. Sonst geraten wir noch aneinander.
Lateinschüler:        Ich sehe nur eins: dass man mich in Ihrer berühmten Stadt ständig bedroht.
Martin:sagt traurig

                Du versündigst dich umsonst an dieser Stadt! Du hast bloß einen Mann getroffen, der

                des Wartens auf eine herzliche Nachricht aus Eisenach müde ist. Von allen Städten der Welt ist nur sie mir lieb und teuer.
Lateinschüler: Warum bevorzugen Sie denn Eisenach, Magister?
Martin:Immerhin lebt hier meine Ursula.
Lateinschüler:        Seit wann ist sie denn ihre geworden?
Martin:Du hast wieder nichts verstanden!
Lateinschüler:        Was soll ich da verstehen!

kurze Pause

                Es ist längst Zeit für mich zum Aufbruch.
Martin:Warte. Hast du sie wirklich gesehen?

Lateinschüler:        Immerhin hatte Ihr Freund recht, als er sagte, dass Ihr Verstand nicht ganz bei Troste

                        ist. Ich wiederhole, nur für Sie, dass ich sie sah ... gesehen habe ... ja, gesehen

                        habe!
Martin:Dann lass mich in deine Augen sehen.
Lateinschüler:Schon wieder haben Sie so einen sonderbaren Einfall, verehrter Magister!
Martin:
Aber das ist doch so einfach! In deinen Augen kann ich sie sehen. In ihnen sollte sich unbedingt Ursula widerspiegeln.

versucht, dem Lateinschüler in die Augen zu sehen

Lateinschüler: Keineswegs.
Martin:Wie grausam du bist! Willst mit mir einfach nicht ihr zauberhaftes Licht teilen!
Lateinschüler:        Hier ist es wirklich so dunkel, dass wir noch nicht einmal einfaches Licht haben.

                        Nicht zu reden vom magischen Licht!

kurze Pause

                Zünden Sie noch eine Kerze an, Martin Luther!

Martin:Gut.

zündet eine Kerze an und plötzlich geht ihm ein Licht auf

                Wie hast du gesagt? Wiederhole!
Lateinschüler: Was wiederholen?
Martin:Deinen Satz, oder bloß nur meinen Namen.
Lateinschüler:        Wie, hören Sie mich schlecht? Oh, wie Sie mir nicht gefallen! Ein dummer Einfall

                        nach dem anderen. Ich werde das nicht tun!
Martin:Ja, selbst im Kleinen willst du nicht zurückstecken.
Lateinschüler: Zünden Sie Kerzen an, geehrter Magister!

spricht kaum hörbar

                Mein Magister!
Martin:Was für ein schöner Schein! Stell' dir vor, dass es dir jetzt gelungen ist, ihre schöne

Stimme in vollem Umfang zu wiederholen. Oder besser: nachzuahmen.        
Lateinschüler:        ironisch

                Tatsächlich?
Martin:spricht mit geschlossenen Augen

Weiter!
Lateinschüler: Was weiter?
Martin:Rufe mich nochmal beim Namen!
Lateinschüler:        Haben Sie denn schon ihren Namen vergessen?
Martin:Kann sein.
Lateinschüler:        Nun, wie Sie wollen.

Pause

                Zünde alle Kerzen auf der Erde an, mein lieber Martin, denn uns bleibt nur wenig Zeit.

Luther entzündet alle Kerzen. Im Zimmer wird es hell wie am lichten Tage. Der Lateinschüler nimmt seine Kapuze ab und vor dem Angesicht des Magisters erscheint Ursula Cotta.

Martin:bekreuzigt sich

                        Heilige Anna, hilf! Sind Sie das?
Ursula:Ja, Martin, ich.
Martin:In meinem Kopf ist jetzt Durcheinander und in der Brust wilde Verwirrung. Das kann

                        nicht sein!
Ursula:Nun, warum nur, Magister?

Martin:Warum wohl? Nur einen Augenblick war es her, da stand ein Schüler der Lateinschu-

                le von Eisenach vor mir, und jetzt Sie ...
Ursula: Wir und dieser Lateiner sind lediglich Landsleute.
Martin:Es geht mir nicht in den Sinn, wo ist denn mein so weinerlicher Lateiner nur hin?
Ursula:
Vielleicht geht er seinen Dingen nach. Er hat alle Aufträge rechtens erfüllt, und ich

                        habe keine Aufgaben mehr für ihn. Hat er ihnen etwa nicht gefallen?

Martin:Ein braver Bursche. Und kein hohler Kopf.

                Pause
                Wie froh ich bin, Sie zu sehen! Aber sind Sie es wirklich?
Ursula:Was überzeugt dich von der Wahrheit meiner Worte?
Martin:Gestatten Sie mir, Ihre Hände zu halten.
Ursula:Hier sind sie.
Martin:bedeckt mit Ursulas Händen sein Gesicht

Das sind sie ... sie ... sie. Wie früher fühle ich ihre Zärtlichkeit.

Ins Zimmer kommt Rubianus, der Ursulas plötzlichem Erscheinen keine Aufmerksamkeit schenkt.

Crotus:geht nervös umher

                        Alles ist verloren. Schließlich hat der Herbergsvater vor meinem Angesicht die Tür

                        verschlossen. Jetzt bin ich hier bis zum Morgen mit euch eingesperrt. Verdammt!
Martin:Warum bist du zurückgekommen?
Crotus:Das geht dich nichts an. Alles nur wegen dir und diesem Lateiner.

                schaut auf Ursula

                Wer ist das?
Ursula:Ein Schüler der Lateinschule.
Crotus:Ich habe nicht gehört, dass man Frauen in diese Schule aufnähme! Und du, Martin?

                        Na, na, na! Sie wissen, Ehrenwerte, ich kenne nicht ihren Titel oder Namen, aber es

                reicht, mit einem Auge nur auf das vor Glück selige Gesicht des Magisters zu

                schauen, um zu verstehen, dass da gerade Ursula Cotta vor mir steht.
Martin:Wärest du nur in den Naturwissenschaften so fleißig!
Crotus:Lehre mich nicht, wie ich leben soll, Magister. Denke besser an dich.

wendet sich an Ursula

                Ich möchte Ihnen sagen, wie gefährlich dies hier ist, denn viele wissen gar nicht, was                 einem Studenten droht, wenn alle erfahren, dass eine Frau ihn im Schutze der Nacht                 besuchte.

Martin:Jetzt kann mir nichts drohen. Denn ich bin endlich Magister.
Crotus: Und was ist mit der juristischen Fakultät? Du hattest doch vor, auch sie unter den Be-

sten zu absolvieren?
Martin:Ich habe nie die ehrgeizigen Bemühungen meines Vaters vor dir verborgen.
Crotus:Nun, es ist mir egal, wer von euch Bauern vorhatte, so hoch wie möglich aufzusteigen. Vom siebten Himmel herunterfallen werdet ihr nicht lange.

Martin:Das heißt, so soll es auch sein.
Crotus: Und dich berührt überhaupt nicht, dass bei einer Untersuchung auch die Frauenehre

betroffen sein könnte?
Martin:Was willst du?
Crotus:Nun, du bist doch der schlaue Kopf, du denke nun nach.
Martin:Wenn du Geld willst, so nimm alles.

                gibt seinen Geldbeutel her
Crotus:wiegt ihn in der rechten Hand

                Denkst du, dass das reichen wird?
Martin:Mehr habe ich nicht, glaube mir.
Ursula:hält ihren Geldbeutel hin

Hier, nehmt auch meines.
Crotus:Euer Geld nehme ich nicht, aber das Geld des Vaters nehme ich mit großer Freude.                 Wie sagtest du doch: das "verdammte Geld"?!

Martin:Alles Geld ist verdammt. Ich bitte dich nun, uns allein zu lassen, wir haben uns viel

  zu erzählen.
Crotus:Mit solchem Geld gehe ich nirgendwo verloren. Nur wie soll ich von hier verschwin-

den?
Martin:Wie üblich durch das Fenster!
Ursula:Das Fenster?
Crotus:Ach, sie wissen ja noch nicht, dass wir aus dem Fenster steigen, wenn man vor uns die Tür abschließt!
Ursula:Aber das hier ist der erste Stock!
Crotus:Zum Glück sind wir bloß im ersten Stock und nicht in einem hohen Glockenturm.

Und nur deshalb werde ich euch nicht stören. Ich gehe und nehme ein anderes Fen-

ster, ich nehme das hier nicht, um keinen Verdacht auf euch zu lenken. Oh, ich werde

mich vergnügen, Gertrud umarmen, und du wirst sie vergessen müssen.

                Pause

                Berühren dich meine Worte nicht, Luther?
Martin:Überhaupt nicht.
Ursula:Sagen Sie nichts zu ihr.
Martin:Im Gegenteil, sage ihr, dass ich sie nicht liebe.
Crotus:Was, all das direkt auf den Kopf zu sagen?
Martin:Wort für Wort.
Ursula:Aber warum?
Martin:Darum, weil es notwendig ist, die Wahrheit zu kennen und stets offen für sie zu sein.
Crotus:Noch vor kurzem hast du mit ihr anders gesprochen!
Martin:Du hast dich doch beeilt!
Crotus:Ich gehe. Keine Minute länger bleibe ich bei euch.

                geht zur Tür
Ursula:Aber es ist auch für mich Zeit zu gehen.
Martin:kalt

                Gehen Sie. Bloß wie?
Ursula:Ich weiß nur eins, dass ich nicht länger hier bleiben kann. Denn man kommt hierher!
Martin:Bis zum Morgen wird Sie hier niemand stören. Alle meine Freunde werden bis zum

Morgengrauen feiern.

Ursula:Aber ich sollte diese Mauern verlassen, um dir keine Schwierigkeiten zu bereiten, Martin.
Martin:Jede Schuldigkeit hat ihren Preis, und glauben Sie mir, ich kenne ihn. Denn das Geld                wurde von den Menschen erfunden, um ihnen für Verstöße zu bezahlen.
Ursula:
Ich verstehe nicht.
Martin:Nun, zum Beispiel, eine Beleidigung ist in unserer Herberge mit einer Geldstrafe vo                zwei Pfund Wachs belegt, die man für die Bedürfnisse der Burse abgeben soll. Wennjemand einen Stein wirft oder den Dolch zieht, so bezahlt er schon drei Pfund, und

für einen Kampf mit Verletzungen wird der Verursacher schon zwei Goldtaler zu be- zahlen haben.
Ursula:Und das zu Recht. Mit euch muss man Auge um Auge richten. Eine Frau aber kann

 sich unter keinen Umständen in diesen Mauern aufhalten. Ich brauche den Schlüssel!
Martin:Eher ergibt sich die Stadt Erfurt der Gnade des Bezwingers und öffnet dem Feind die Tore, als dass unser Herbergsvater den Schlüssel rausrückt. Er hält sich an die eine

heilige Regel, von 8 Uhr abends bis 5 Uhr in der Frühe die Tür geschlossen zu hal-

ten.
Ursula:seufzt

Das heißt also, ich bin gefangen?
Martin:Vielmehr bin ich in der Falle.
Ursula:Lach nicht, Martin!
Martin:Das fällt mir nicht ein!
Ursula:Nein, du lachst!
Martin:Das schien Ihnen nur so!
Ursula:Ich seh' es genau, dieses bösartige Lächeln auf den Lippen.
Martin:Dies ist kein boshaftes Lächeln, sondern nur meine Feststellung der bloßen Tatsache,                 dass es von einer heiligen Regel nun mal keine Ausnahme gibt.
Ursula:
Dann solltest du dir jetzt etwas einfallen lassen, Martin!
Martin:Aber was kann ich da bloß tun, Ursula?
Ursula:
Du bist doch Magister, Luther!
Martin:Magister schon, aber leider nicht Gott.

Pause

                Obwohl, ich glaube, ich habe einen Einfall.
Ursula:Was?
Martin:Wir müssen nur ein Wort schreien, und dann wird sich dieses ganze schläfrige Reich

in einen Bienenschwarm verwandeln.  

Luther schreit mit ganzer Stimme

                Feuer!
Ursula:Wage nicht, so etwas zu sagen. Bist du verrückt geworden, Martin?
Martin:
in normaler Tonlage

Was soll da falsch sein? Das ist doch eine ausgezeichnete Idee.
Ursula:Ja, schon, es könnte nicht besser sein. Aber wer schreit Feuer, wenn da keines ist?
Martin:
Nein? Dann wird es gleich eins geben!

Luther spielt mit dem Feuerstein in der Hand.

Ursula: Gib mir den Feuerstein und schlage keine Funken mehr.

Martin: Aber es gibt kein Feuer ohne Flamme. Sehen Sie es doch ein, Ursula, dass das der                 Logik widerspricht!

 

Ursula nimmt Martin den Feuerstein aus der Hand.


Ursula:Solch eine Dummheit sehe ich zum ersten Mal.
Martin:Wirklich zum ersten Mal?
Ursula:Stell' dir vor, du hast solch einen Eindruck auf mich gemacht ...
Martin:
... ich möchte den Eindruck noch verstärken ...
Ursula:Ich bitte dich, lass das.
Martin:Aber was kann ich tun, um Sie aus diesen Mauern zu befreien? Vielleicht das

hier?
Ursula:Was - das?
Martin:Vielleicht sollten wir nicht "Feuer" schreien. Nun, wen kann man heute mit dem feu-

rigen Element beängstigen, noch dazu mit solch unschuldigem Rufen ...
Ursula:schaut verdächtig

Womit denn?
Martin:schreit

Pest! Pest! Pest!
Ursula: Es wird immer schlimmer. Schweige. Du bringst doch nicht nur die Herberge, son-

dern die ganze Stadt auf die Beine!

Martin:verärgert

Und ich habe mich so sehr für Sie bemüht! Aber alles passt Ihnen nicht: Feuer ist

nicht nach Ihrem Geschmack, die Pest ist auch fehl am Platze, ja, es sollte schon ein

Ereignis von kosmischer Bedeutung sein, so dass Sie schließlich wieder in die Frei- heit gelangen! Nun, die Aufgabe ist wahrlich keine leichte.
Ursula:Nur, Martin, lass mich dir einen Rat geben: Wenn du dir wieder etwas Verrücktes

ausdenkst, dann schreie nicht gleich. Sage es mir erst leise, und ich werde selbst

entscheiden, ob du dich so abmühen musst.
Martin:Das ist einfach gesagt: Denke dir ein Ereignis von universeller Bedeutung aus! Ja,

da kann die Zeit bis zum Morgen, ja, sogar das ganze Leben nicht ausreichen.

Pause

Nein, ich bin wirklich machtlos.
Ursula:Ich dachte mir das so. Ich hatte schon immer keine sehr hohe Meinung von dir, Ma-                 gister.
Martin:
Ist das etwa eine Herausforderung?
Ursula:Ich konstatiere nur die Tatsache, dass Gott nicht allen ...
Martin:unterbricht Ursula

... ein Gehirn gibt.

Ursula: ... nicht nur ein Gehirn, sondern auch Verstand!
Martin: Nun warten Sie, furchtlose Ursula, jetzt lehre ich mit meinem Gehirn nicht nur die

ganze Welt unter dem Mond, sondern auch Sie das Fürchten!

Ursula:Ganz zu deinen Diensten!
Martin:spricht mit zitternder Stimme

Was für ein Unglück fiel auf die ganze christliche Welt! Ich bin bereit, wie ein klei- ner Junge in Tränen auszubrechen.
Ursula:Was ist denn in der Welt passiert, dass du so traurig bist, Magister?
Magister:Wie, wissen Sie das etwa nicht?
Ursula:Was weiß ich denn nicht?
Magister:fast weinerlich

Der Papst ...
Ursula:vorsichtig

Was ist mit dem Papst passiert?
Magister:spricht laut

Der Papst ist ... gestorben.
Ursula:verängstigt

An was? Wann?
Martin:Woran weiß ich nicht. Aber er starb gerade! Keine Minute ist vergangen, da er für

immer einschlief.
Ursula:Ist das wahr?
Martin:Wahrhaftiger kann es nicht sein. Der Papst ist gestorben.

Martin weint und wiederholt einige Male den Satz, während er das Gesicht mit den Händen bedeckt. Aber dabei beobachtet er eifersüchtig Ursulas Reaktion. Pause.

 

Und Sie, Ursula, warum weinen sie nicht? Sie lieben ihn wohl nicht?
Ursula:Für solche Worte sollte dir die Zunge abgeschnitten werden ...
Martin:... und am besten zusammen mit dem Kopf!
Ursula:Martin, ich bitte dich, ziehe nicht Not und Elend an dich. Und rede nie mehr so.
Martin:Aber er ist wirklich ...
Ursula schlägt ihm leicht auf den Mund

                Das ist Gotteslästerung.
Martin:Aber dafür eine Nachricht von universalem Maßstab, so wie ich Ihnen versprochen

habe.
Ursula:Danke dir, Martin, für diese schlechte Nachricht.
Martin:Bitte.

In der Herberge herrscht nach wie vor Totenstille. Pause.

 

                Und unsere Burse schläft wie zuvor, und hat es nicht eilig, Ihnen die Türen weit zu                 öffnen.
Ursula:Nun, was soll's, wenn es in der Tat keine Möglichkeit gibt, mich aus diesen Mauern

zu befreien, so müssen wir derweil geduldig sein.
Martin:fröhlich

Hurra!
Ursula:Was?
Martin:erinnert sich und spricht schon mit Trauer in der Stimme

Ich habe mich wie auch sie mit meinem unglücklichen Schicksal abgefunden!
Ursula:
Wenn ich du wäre, würde ich meine wahren Gefühle nicht so offen aussprechen.
Martin:Wovon reden Sie jetzt, Ursula? Denn immerhin hat mich der böse Zufall getroffen

und nicht Sie, sondern ich soll die ganze Nacht mit einem Schüler der lateinischen

                Schule zubringen. Währenddessen ich im Kreise der Freunde Spaß hätte haben

können bis zum Morgen!
Ursula:... in Gertruds Armen!
Martin:Gertrud habe ich übrigens völlig vergessen. Warum überschatten Sie so meine traurige Existenz?
Ursula:Martin, lächle mich nicht an.
Martin:Und wiederum, meine Herrin, kann ich Ihnen sagen, dass Sie hier falsch liegen.                         Daranist mein Gesichtsausdruck schuld. Alle denken, dass ich lache, aber in der

Tiefe meiner Seele weine ich bitterlich.
Ursula:Ich sehe es. Dein Mund geht bis hin zu den Ohren. Man kann nicht durch die Zähne

weinen.

Pause

                Nun, was werden wir tun?
Martin:Ich weiß nicht, was Sie zu tun gedenken, aber ich bin vor langer Zeit schon daran-                gegangen, meine nicht gerade leichten Aufgaben zu lösen.
Ursula:
Und welche denn?
Martin:Nun, welche? Ich bin hier schon zwei Stunden, damit Sie in guter Obhut sind.

redet ernst

                Lassen Sie mich, Ursula, Ihnen mit diesem gemeinsamen Abend und der Nacht                         vergelten, daß Ihr Haus mir für 2 Jahre Unterkunft und Heimstatt war.
Ursula:Du vergeltest Gutes mit Gutem?
Martin:Leider ist meine Gastfreundschaft nicht so üppig.
Ursula:Ich dachte, du bist erwachsen, Martin, aber du bist immer noch der gleiche verrückte

                Junge.
Martin:hochmütig

Ich bestehe auf einer Entschuldigung. Ich bin doch Magister der freien Künste und bitte darum, respektvoll mit mir umzugehen.

Ursula:ironisch

Dann sagen Sie mir bitte, Magister, was hast du so studiert?
Martin:
redet in einem Fluss

Grammatik, Rhetorik, Logik, Mathematik, Physik, Metaphysik und Ethik.
Ursula:In Ethik hast du die Prüfung wahrscheinlich nicht bestanden.
Martin:Gerade mit der Ethik hatte ich nie Probleme.
Ursula:
Und wie groß ist dein Wissen, Martin? Erzähle!
Martin:Es ist so groß wie majestätisch!
Ursula:Na, hören wir mal!
Martin:Keine Zeit!
Ursula:Tatsächlich ist dein Wissen groß ...
Martin: ... und majestätisch.

                spricht monoton einen auswendig gelernten Text

Alles ist Bewegung, denn nur durch aus Bewegung hervorgehender Veränderung

werden Möglichkeiten zu Realitäten. Das Universum bewegt sich in zehn Kreisen.

Sieben Planetenhimmel, das Firmament der Sterne, der Kristallhimmel und die

Sphäre des „ersten Beweglichen“ kreisen um die Erde. Nur Gottes Wohnung über

allem bewegt sich nicht.

Zwar ist die Erde Mittelpunkt dieses Universums, aber sie ist winzig, nicht mehr als ein Punkt. Ihre Existenz ist in der gleichen qualvollen Weise paradox wie die des Menschen. Obwohl Mittelpunkt, ist sie nebensächlich. Und der Mensch, obwohl scheinbar so furchtbar wichtig für Gott, ist doch ganz und gar entbehrlich.

                Alle Körper sind den unumstößlichen Gesetzen von „Generatio“ und „Corruptio“                 unterworfen. Gott ist es nicht. Er kann erwecken, was tot ist, und er kann alles                         Lebendige in weniger als einem Augenblick zunichte machen.

Pause

                Und, wie?    

Ursula:        Ach, ich muss dir mit großem Bedauern sagen, Martin, dass du in den Wissenschaf-                ten nicht viel erreicht hast.
Martin:        Was ist hier so erstaunlich, ich habe immer schlecht studiert. Alle meine Lehrer ha-

ben meine angeborene Dummheit festgestellt.
Ursula:Wie konntest du dann an eine der besten Universitäten in Europa gelangen?
Martin:Eher zufällig. Die Vermessenheit meines Lehrers aus Eisenach, der, ich weiß nicht,

warum, beschlossen hatte, mir ein Empfehlungsschreiben für unseren Rektor zu

                geben, wirkte sich auf mein Leben aus.
Ursula:        Aber den Baccalaureus hast du als zwölfter von siebenundfünfzig Studenten bekom-                 men, nicht wahr?
Martin:       
korrigiert nachsichtig

                Als dreizehnter.
Ursula:        Und den Magister hast du als erster von siebzehn Kommilitonen abgelegt.
Martin:        Nein, als zweiter. Aber woher wissen Sie das alles?
Ursula:        Die Spatzen haben es von den Dächern gepfiffen.
Martin:        Also, die ganze Zeit ... haben Sie sich auch an mich erinnert. Und unzweifelhaft                         standen Sie damals auch hinter dem Empfehlungsschreiben!
Ursula:        Welches Empfehlungsschreiben?
Martin:        Ursula!
Ursula:        Davon höre ich das erste Mal.
Martin:       
bedrückt

Jetzt verstehe ich alles.
Ursula:Dein akademischer Grad ist der beste Beweis dafür, dass dir der Brief zurecht mitge-

                geben wurde.
Martin:       
beleidigt

Also, dann ist doch alles klar wie Kloßbrühe. Dann steigt meine Schuld bei Ihnen auf astronomische Ausmaße an.
Ursula:Nun, wenn du in der Schuld stehst, dann zahle auch.
Martin:Ich werde an meinen Vater schreiben und er wird alles hundertfach zurückzahlen.
Ursula:Du hast meine Gastfreundschaft genossen, aber jetzt soll dein Vater für deine Schul-

den einstehen?
Martin:Ich habe doch selbst nichts!
Ursula:Ich weiß, dass ein Studentenbruder immer arm dran ist, aber nicht so sehr, um dem

                Reisenden nicht einmal trockenes Brot und einen Schluck Wasser anbieten zu kön-                 nen!
Martin:       
erschrocken

                Sind Sie hungrig?
Ursula:       
mit gesenktem Blick

Ein wenig.
Martin:Was für ein Esel ich bin, dass ich auch nur danach fragte. Denn Sie kamen direkt

vom Wege. Gleich!

 

Er versucht, den Raum zu verlassen, aber Ursula hält Martin zurück.


Ursula:        Wo
hin gehst du?
Martin:        In die Küche, sie ist bei uns im Erdgeschoss.
Ursula:        Nein, gehe nicht dorthin, das muss nicht sein.
Martin:        Aber Sie sind doch hungrig, und ich komme gleich zurück.
Ursula:        Nicht für einen Augenblick will ich abseits von dir sein.
Martin:       
erschüttert       

                Ist das wahr?
Ursula:        Warum sollte ich dich täuschen, Magister?
Martin:        Trotzdem will ich Sie nicht vor Hunger sterben lassen!

Luther geht schnell kreuz und quer durch den Raum und sammelt aus den Schränkchen der Studierenden essbare Vorräte und legt sie auf den gemeinsamen Tisch.

Ursula:         Was machst du, Martin?
Martin:         Ich besorge Ihnen etwas zu essen.
Ursula:         Aber das ist doch alles nicht deins!
Martin:         Das ist wahr, denn jetzt ist alles Ihnen.
Ursula:         Du denkst an Diebstahl?
Martin:         Nur selten, und dann nur nachts. - Einem Nahestehenden ein wenig Schinken, Brot,                 Käse und Gemüse zu geben, das ist kein Diebstahl. Glauben Sie mir …

                Pause

                Ach ja, ich sah irgendwo noch einen Krug Bier.

Ursula:Bier?

Martin findet nach kurzem Suchen einen Bierkrug und stellt ihn auf den Tisch.

Martin:Statt Wasser trinken wir Bier.

Ursula:        Und wenn es kein Bier gibt?
Martin:        Dann trinken wir Wein.
Ursula:        Und wenn es auch keinen Wein gibt?
Martin:        Die Frage ist natürlich schwierig, aber nicht für uns Studenten, die durstig und mit                 zitternder Hand nach neuem Wissen über Rezepte greifen. Wenn es kein Bier und                 Wein gibt...
Ursula:        ... dann trinken die Studenten eben Trinkwasser.
Martin:        Dies nur im schlimmsten Fall, und dass vielleicht nur vor dem Tod. Denn
Gott sei

                Dank gibt es ja noch Schnaps.
Ursula:        Was für eine verlockende Sünde!
Martin:        Sagen Sie das nicht: ein Krug Bier ist für zwei.

                Pause

                Setzen Sie sich an den Tisch, Ursula.

                setzt sich
Ursula:        Wie ich sehe, habt ihr Studenten euch hier gemütlich eingerichtet. Man versorgt euch

                reichlich, und Frauen kommen auch manchmal zu Besuch ...
Martin:        Was für Frauen, ich sah hier nicht eine!
Ursula:        Und ich?
Martin:        Und du? Ein Lateinschüler, der hier selbst zur Nacht kam und dazu noch nichts isst.                
Pause

                Gefällt Ihnen das Essen etwa nicht?
Ursula:        Gestohlenes Brot werde ich nicht essen.
Martin:        Oh, das ist es! Na, dann werde ich Sie trösten. Wir legen alle zusammen, so ist es al-                so alles unseres.
Ursula:        Dann ist es eine andere Sache. Nur schau mich nicht an, wenn ich esse!
Martin:        Bin ich ein Ungeheuer? Ich möchte nicht, dass Sie sich bei meinem Anblick ver-                        schlucken! Außerdem werde ich sehr beschäftigt sein.

Ursula:Womit denn?

Martin:            Ich werde Ihnen auf der Laute spielen. Denn Bier ohne Musik ist wie

ein Wirtshaus… ohne Studenten.
Ursula:Aber vom Bier kriegst du keinen Tropfen ab!
Martin:Wenn die Saiten meiner Laute schwingen, boshafte Ursula, dann werden Sie verste-hen, wie gefühllos und grausam Sie zum Musikanten gewesen sind!
Ursula:Das muss ich mir erstmal anhören, wie er spielt!
Martin:Er spielt heute nicht nur, sondern singt auch!
Ursula:Anders als deine Freunde hatte ich heute mehr Glück.
Martin:Ich kann nicht umhin zuzugeben, dass in Ihren Worten ein vernünftiger Kern steckt.

                Aber ich möchte Ihnen in aller Verantwortung sagen, dass es heute keinen                         glücklicheren Menschen auf Erden als Martin Luther gibt.

 

Fängt an zu singen.
 
                An hellen Tagen, Herz, welch ein Schlagen!
                Fa - la - la - la - la / la - la - la (2mal)

                Himmel dann blauet,
                Auge dann schauet,
                Herz wohl den beiden
                manches vertrauet.
                Fa - la - la - la - la / la - la - la.

                Auf, lasst uns singen
                Zeit froh verbringen!
                Fa - la - la - la - la / la - la - la (2mal)

                Jugend verblühet,
                Alter sich mühet.
                Freut Euch der Stunde
                in dieser Runde!
                Fa - la - la - la - la / la - la - la.

                Musik soll erklingen,
                Freude uns bringen!
                Fa - la - la - la - la / la - la - la (2mal)

                Lasset die Sorgen,
                denkt nicht an morgen.
                Freut Euch der Stunde
                in dieser Runde
                Fa - la - la - la - la / la - la - la.

Ursula:       
klatscht in die Hände

Wunderbar! Du hast dir dein Bier redlich verdient!

                reicht ihm den Bierkrug
Martin:       
lehnt ab

                Aber erst nach ihnen!
Ursula:         Aber ich habe schon getrunken.
Martin:         Das ist so lang her, dass ich vergessen habe, wann es war. Ich möchte, dass wir ihn

jetzt gemeinsam austrinken.
Ursula:Nun, gut!

                trinkt besonders lange
Martin:       
empört

                Beeilen Sie sich, geben Sie mir schon den Tonkrug, denn jeder Augenblick ist                         kostbar!
Ursula:        Warum?
Martin:       
gedrückt

                Ach, wir haben diesen glücklichen Moment verpasst!
Ursula:        Welchen Moment denn?
Martin:        Diesen Moment der Vereinigung der Münder, der im Volksmund Brüderschaft ge-                 nannt wird. Wir müssen ihn dringend wiederholen.
Ursula:        Aber wir haben nur einen Krug!
Martin:       
kratzt sich am Kopf

Ja, das ist keine leichte Sache. Wir können zwar nicht unsere Krüge vereinigen und der Schaum wird nicht überlaufen, aber es gibt die zwei Paare unserer Münder, und so ist noch nicht alles verloren.
Ursula:Ach, wie findig du bist!
Martin:So soll es sein, dass ich nach deinem Schluck trinke, und dann werde ich Sie oder Sie

mich … küssen.
Ursula:Wie hübsch dir alles gelingt! Und hast auch schon die Brüderschaft erfunden!

Martin:        brummelt vor sich hin

                Ich habe mir nichts ausgedacht — das haben sich vor mir schon kluge und an Gefüh-                 len großzügige Menschen ausgedacht.
Ursula:        Nun, wenn es so kluge wie du sind, dann werde ich trinken!
Martin:        Beeil' dich aber. Mein Mund ist schon ganz trocken.

Ursula trinkt

                He, nicht so viel!
Ursula:        Was bist du gierig, Herr Magister!
Martin:        Ich bin nicht gierig, sondern gerecht.

                nimmt Ursula den Krug ab und nimmt selbst einen Schluck

                Nun, jetzt ist es Zeit.
Ursula:        Ich verstehe nicht.
Martin:        Die Zeit für einen Kuss ist gekommen!
Ursula:       
lächelt

                Das ist unglaublich.

Martin:Ich sage es Ihnen doch, da gibt es nichts zu zweifeln.
Ursula: Nun gut.

                beide küssen sich

Bald macht sich Ursula von Martin los.

Martin:        So schnell?
Ursula:        Dafür aber anständig!
Martin:        Vielleicht wiederholen wir es?
Ursula:        Nein.
Martin:        Bin ich etwa schuld daran, dass kein Bier mehr da ist? Sie haben es doch bis zum

letzten Tropfen ausgetrunken!
Ursula:Es geht nicht ums Bier. Magister, bleibe vernünftig!
Martin:Das kann ich nicht. Denn ich habe Sie vier lange Jahre nicht gesehen!
Ursula:Vier Jahre, zwei Monate und dreizehn Tage.

                lange Pause
Martin:        Ich weiß, dass ich nicht schön bin und leider auch nicht sympathisch, aber ist das

Äußere denn jetzt so wichtig?!

Ursula:Rede nicht so, Martin!

Martin:Wenn Sie nur wüssten, wie ich mich selbst hasse! Herr, woher sind nur das große Gesicht, der kleine, dicke Hals, die langen Arme und die schweren Plumpfüße?
Ursula:Warum redest du so über dich?
Martin:Oh, trösten sie mich nicht, Ursula! Ich kann mich doch von der Seite sehen. Alle la-

chen doch hinter meinem Rücken!
Ursula:Aber wenn du ein anderer wärest, dann würde ich dich vielleicht nicht gern haben.
Martin:Und Sie mögen mich, so wie ich bin?
Ursula:Ich mag dich. Und einen anderen Martin Luther brauche ich nicht.

Pause

Martin:        Es scheint mir, dass in meiner Brust nicht eine, sondern zwei Seelen wohnen. Eine

hat sich bereits abgefunden mit diesem öden Leben, aber die andere rebelliert, ist aufrührerisch und predigt fortlaufend, dass es noch möglich ist, alles in dieser Welt zu verändern.
Ursula:Verändern! Nun, natürlich, dieses Wort habe ich heute schon gehört.
Martin:Wo?
Ursula:Ein Bettler hielt mich heute an und sagte: "Geh zu ihm und sage, dass alles nicht

mehr so bleiben kann. Und dass es zu großen Veränderungen in der Natur der Dinge

kommen wird, die wir wieder für uns erfahren müssen.''
Martin:Sonderbar. Und warum hat er sich gerade an Sie gewandt?
Ursula:Das weiß ich nicht. Aber von seinem Blick schauderte mir der Rücken.

                Pause
Martin:        Ein Narr ... ein Vagabund ... ein Scharlatan, das ist dieser, der ihnen auf der Straße                 begegnete. Vergessen Sie den armen Kerl, der selbst nicht versteht, wovon er spricht.

Das Leiden der menschlichen Seele ist wie das Delirium unheilbar krank.
Ursula:Vielleicht hast du auch recht.

Pause

                Aber es ist jetzt schon spät und Zeit zum Schlafen.
Martin:        Schlafen? Jetzt, wo mein Glück so nah bei mir ist? Fragen Sie nicht, denn nicht ein-                 mal für einen Moment werde ich meine Augen schließen.
Ursula:        Sage mir, Martin, wo ist dein Bett?
Martin:       
stur

                Das sage ich nicht.
Ursula:        Aber ich weiß es auch so!
Martin:        Das werden Sie nie erraten!
Ursula:       
zeigt auf das richtige Bett       

Nun, das hier ist es!
Martin:Ja, das ist es wirklich! Und wie haben Sie das herausgefunden?
Ursula:Nur an diesem Ort hast du kein Essen gesucht, dann ist das hier also dein Bett. Habe

ich recht?
Martin:Wie immer! Zu meinen vielen Sünden, so muss ich ihnen gestehen, gehört auch mein großer Appetit.
Ursula:Du wächst halt noch!
Martin:Und dazu trinke ich noch viel! Und das können sie nicht auf mein jugendliches Alter

schieben.
Ursula:Sei vorsichtig damit, Martin. Denn Alkohol hat noch niemandem Nutzen gebracht.
Martin:Eine heilige Wahrheit! Von ihm tut nur der Kopf weh … am Morgen danach.
Ursula:Siehst du!

                kurze Pause

                Ich würde mich jetzt gern hinlegen.
Martin:        Legen sie sich hin.
Ursula.               
legt sich bekleidet auf Martins Bett, und der Magister deckt sie mit seiner Decke                 zu

                Du bist sehr gastfreundlich, Magister der freien Künste!
Martin:       
spricht verspielt

Wer kann daran zweifeln?

                die Stimme zittert

                Und was ist mit mir?
Ursula:        Was – mit dir?
Martin:        Wohin lege ich mich jetzt?
Ursula:        Auf das Bett nebenan, das, was mir näher ist.
Martin:        Aber vielleicht ...
Ursula:        Martin, da kann und wird nichts sein.
Martin:        Oder?
Ursula:        Nein, Magister!
Martin:        So verweigern Sie sich mir?
Ursula:        Ja.
Martin:        Ich verstehe Sie. Eine Frau aus einer aristokratischen Familie und ich Trampel, Bau-                 ernsohn. Welche Kluft ist da zwischen uns!
Ursula:        Was macht es mir aus, daß du ein Bauernsohn bist? Du bist für mich immer noch der                 singende Junge.
Martin:        Dann erinnern Sie sich auch daran?
Ursula:        Ich erinnere mich an alles, Magister. Als du von Haus zu Haus gingst und sangst und

gezwungen warst, dir dein Brot zu verdienen! Einst kamst du ganz nass vom Regen

und das erste Mal sah ich in deinen Augen Tränen.
Martin:… vielmehr Hass. Im sintflutartigen Herbstregen sang ich nicht weniger als eine Stunde und streckte die Hand aus, um einen Almosen für mein beschwerliches Mühen zu bekommen. Und anstatt eines Groschens oder eines Stücks Schwarzbrot gab man mir ...
Ursula:An das Böse sollte man sich nicht erinnern, Martin.
Martin: ... anstatt Brot gab man mir einen Stein in die Hand. An diesem Tag verfluchte ich

Gott!
Ursula:Für alles, was der Herr uns herabgesandt hat, sollten wir ihm demütig danken!
Martin:Mir schaudert immer noch, wenn ich das Wort "Gott" höre. Das ist der, der mich

mehr als jeder andere hasst!
Ursula:Das stimmt nicht! Er liebt dich nach wie vor!
Martin:Muss ich ihm etwa für diesen Stein danken? Ist das alles, wozu er fähig war? Ist das

seine Belohnung? Er ist also nicht besonders großzügig!
Ursula:Du bist jetzt beleidigt, Martin. Aber denke darüber nach, denn nicht er, Gott, sondern ein müder und nicht besonders gnädiger Mann gab dir den Stein. Vergib ihm!
Martin:Dem Menschen kann ich vielleicht noch verzeihen, aber ihm, der uns Menschen so

geschaffen hat, niemals.
Ursula:Solche wurden wir selbst. In Seinem hohen Streben schuf er uns nach seinem Bilde

und damit als ideale, unsterbliche, aber wir haben zum Unglück gesündigt und Ihn

damit verraten.

Pause

                Glaubst du nicht, dass dieser Stein ein Zeichen für dich ist? Vielleicht ist er der Eck-

stein, auf den du das Fundament unseres neuen Glaubens legst.
Martin:Aber den Glauben haben wir schon!
Ursula:Ich bin damit einverstanden, dass es ihn scheinbar gibt, doch ist er so oft von menschlicher Ignoranz und Dummheit verzerrt, dass es scheint, dass es ihn überhaupt

nicht gibt … einzig nachgeplapperter Aberglaube, Götzendienst und menschliche

                Überreste, die wir als Heilige und Heilendes bezeichnen.
Martin:       
als ob er nicht auf Ursulas Worte hört

                Hast du etwa Angst, mit mir zu sündigen?
Ursula:       
irritiert

                Ja, ich habe furchtbare Angst davor. Aber Gott, das weiß ich, wird mir übermenschli-                che Stärke geben, dass ich in der Lage bin, der teuflischen Versuchung zu widerste-                 hen.
Martin:        Aber von der Sünde kann man sich freikaufen!
Ursula:        Sag, Magister, wie?
Martin:        Bei Gelegenheit habe ich zwei Ablässe gekauft, die jeden von den begangenen Sün-                 den befreien. Ich schreibe auf sie nur unsere Namen, und dann werden wir wieder                sauber und rein.
Ursula:       
erbost

Und das sagt ein Magister?
Martin:Aber sie sind doch vom Papst geweiht!
Ursula:Und was soll das?
Martin:Ich verstehe nicht. Er ist der Stellvertreter Gottes auf Erden, der erste Schritt zu

Seinem Thron.
Ursula:Und selbst der Papst ist nicht imstande, mir meine Sünden zu erlassen!
Martin:Besinnen Sie sich, Ursula, was Sie sagen! Wenn Sie wollen, werde ich Ihren Namen

auf beide Briefe setzen!
Ursula:Und deinen Namen?
Martin:Was dann passiert mit meiner Seele, ist mir egal. Hauptsache, ich kann diese Nacht

mit Ihnen sein!
Ursula:Und du willst solch ein Opfer auf dich nehmen? Wie konntest du so niedrig von mir

denken?
Martin:Ich wollte Sie nicht beleidigen, Ursula. Wie anders kann ich denn Vergebung der

Sünden erlangen?
Ursula:Es gibt einen Weg und dieser Weg heißt Glauben, der unveränderlichen Wahrheit, der ich immer treu bleibe.
Martin:Aber ich glaube doch auch an Gott.
Ursula:So wirst du gerettet werden!
Martin:Nein, wir beide. Ohne Sie brauche ich nichts.

                Pause

                Vielleicht nehme ich Sie an der Hand und … gut!

Ursula:        Natürlich darfst du's!
Martin:        setzt sich auf den Fußboden neben das Bett von Ursula und hält ihre Hand fest

                Dann bin ich wieder glücklich.
Ursula:        Schau', Martin, die Kerzen gehen aus!
Martin:        Wenn ich mit der Sonne bin, fürchte ich nichts. Ich sehe sie und denke an Gott.

                spricht unsicher

                Denn Sie haben mir gesagt, dass Er mich anscheinend liebt.
Ursula:        Gott selbst ist die Liebe! Hast du das immer noch nicht verstanden?
Martin:        Aber was ist mit dem Jüngsten Gericht?
Ursula:        Wer selbst die Liebe ist, der schenkt uns nur sie und wird für uns nicht zum Henker

werden. Ihn müssen wir nicht fürchten. Er selbst ist unsere wahre Erlösung, die Hoff-

nung auf das ewige und schöne Leben, als unser Schöpfer des Lebens.
Martin:Na, wenn es ein ewiges Leben gibt, so nur mit Ihnen. Mit einem anderen Leben bin

                ich nicht einverstanden.
Ursula:       
seufzt

                Ach, Martin!
Martin:        Denn nur Sie sind meine Religion, Ursula! Und wenn Sie so an Ihn glauben, dann                 finde ich jetzt meinen himmlischen Vater wieder.

Pause

                Wie dumm ich doch war! Gott war all die Jahre so nah bei mir. Aber mir immer                         etwas voraus. Er hat mich stets bewacht und rief, aber seine Stimme hörte ich nicht,                 oder besser gesagt, wollte ich sie nicht hören.

                Pause

                Wie konnte ich das Wichtigste nicht         verstehen? Denn er hat Sie mir geschenkt. Und                 schon dieses Geschenk ist unbezahlbar. Ursula!

                Ruhe

                spricht leise und streichelt zärtlich die Hand von Ursula

                Sie schläft! Schlafe süß, himmlisches Geschöpf, und in deiner Nähe werde ich mein                 Obdach finden. Deine Hand ist die des liebenden Gottes. Sie führt mich, hält, schützt                 und ich werde sie nie wieder loslassen. Allein in der Finsternis verliere ich mich                         nicht.


Martin schläft ein. Man kann hören, wie jemand zu Fuß den Gang hinunter geht und das Schlüsselbund klirrt. Ursula wacht auf, steigt vorsichtig aus dem Bett, sieht den schlafenden Martin, küsst ihn schließlich und verlässt leise das Zimmer. Direkt nach ihr kommt Crotus in das Zimmer.

Crotus:       
weckt den Magister

                Martin, steh auf. Beeil' dich, wach' auf!
Martin:       
im Halbschlaf

                Wer ist es?
Crotus:         Hast du gehört, wie die Tür gerade geöffnet wurde und Ursula wegging?
Martin:       
erhebt sich eilig vom Boden

Wie, ist gegangen? Wann?
Crotus: Gerade eben.
Martin: Und ohne Abschied?
Crotus: Was stehst du so rum, es ist noch nicht zu spät, sie einzuholen!
Martin: Ja, du hast recht.

                läuft zur Tür, hält aber kurz vor ihr inne
Crotus:         Warum wartest du?
Martin:       
dreht sich zu Crotus um

                Vielleicht ist es doch besser so.

Crotus:         Was kann am Abschied gut sein? Sei kein Esel, Magister. Lauf' und hole sie ein!
Martin:         Nein.
Crotus:         Vielleicht können wir jetzt die großen Diskussionen lassen, und du holst sie

                einfach wieder her.
Martin:         Das ist unmöglich. Weil man das Vergangene nicht zurückholen kann.
Crotus:         Philosoph, dieses Mal aber hast du nicht recht!
Martin:       
spricht leise

                 Ich weiß es.
Crotus:         Und trotzdem stehst du wie ein Pfahl!
Martin:         Wie du sehen kannst.
Crotus:         Warum nur, Magister?
Martin:         Sie und ich gehen verschiedene Wege.
Crotus:       
schreit

                Was für ein Unsinn!
Martin:         Ich habe es bereits beschlossen.
Crotus:         Vielleicht hat man es für dich entscheiden?
Martin:         Dann wäre es leichter für mich.
Crotus:         Nun, ich konnte dich nie völlig verstehen, und nun verstehe ich es auch nicht.
Martin:         Und warum bist du so früh zurückgekommen? Und wo sind alle anderen?
Crotus:         Sie haben nach wie vor Spaß ... wahrscheinlich.
Martin:         Wieso wahrscheinlich?
Crotus:         Weil ich nicht bei ihnen war.
Martin:         Und wo bist du die ganze Nacht umhergewandert?
Crotus:         Hier.
Martin:         Wo hier? Ich verstehe nicht.
Crotus:         Die ganze Nacht saß ich hier an der Tür und hörte jedes eurer Worte.
Martin:         Bist du etwa des Geldes wegen zu allem bereit? Nein, das glaube ich nicht.
Crotus:         Dass sie alle verloren gehen mögen! Hier, nimm deinen und meinen Geldbeutel.                        
wirft die Geldbeutel auf den Tisch

                Zuerst war ich so wütend auf dich, Martin ...
Martin:         Ich bekenne, ich hatte nicht recht. Verzeihe mir, wenn du kannst, Crotus.
Crotus:         Du hast keinen Grund, bei mir um Vergebung deiner Sünden zu bitten. Ich sollte dich                 auf meinen Knien anbetteln um Vergebung, weil ich euch den ganzen Abend und die                 ganze Nacht belauscht habe.
Martin:         Warum?
Crotus:         Und du fragst mich noch?

                Pause

                Denn ich war das ganze Leben neidisch auf dich.
Martin:         Du auf mich?
Crotus:         Ja, ich, Crotus Rubianus, vom Hofe, habe dich arg beneidet, Bauernsohn!
Martin:         Aber wofür?
Crotus:         In dieser Nacht habe ich erkannt, was mir keine Ruhe gab. Deine Liebe zu Ursula,

so dachte ich, sei der Grund. Aber dann habe ich plötzlich gemerkt, dass ich neide,

leide und eifersüchtig bin, nenne es, wie du es willst, auf das Gefühl, das Ursula für dich, Martin, in sich trägt. Ihre Liebe für dich, diese keusche Liebe, die wie eine Nymphe, wie ein Heiligenschein, wie ein Talisman dich vor allen irdischen Sünden und Versuchungen schützt. Am Anfang war ich nur einfacher Zeuge, Ausspäher eurer

Gefühle, danach betrogener Liebhaber, und schließlich euer unbestechlicher und treuer Wächter.
Martin: Wer, wer?
Crotus: Eben euer Wächter. Denn ich habe euch nicht nur vor mir selbst, sondern auch vor

der Welt geschützt, die euch ein Feind ist, und ihr seid ihr fremd. Und ich schwöre dir, daß niemand die Schwelle zu eurem kurzen Glück überschritten hätte, ohne mit mir um Leben und Tod gekämpft zu haben.
Martin: Vielen Dank, mein Freund!
Crotus: Nein, danke nicht mir. Denn ich sah etwas, woran ich lange nicht glaubte. Gehst du sie holen?
Martin: Nein.
Crotus: Dann werde ich selbst gehen.

                geht auf die Tür zu
Martin:         Warte! Lass' mich dir zunächst auf Wiedersehen sagen!
Crotus:         Wie jetzt sich verabschieden? Jetzt? Nun, da du mir näher und teuer wurdest! Mach

dir keine Sorgen, ich bringe sie her, und du erklärst dich ihr wieder.
Martin: Das ist nicht nötig, Crotus.
Crotus: Was denkst du?
Martin: Ich gehe fort.
Crotus: Wohin?
Martin: Ins Kloster.
Crotus: Es wird immer schlimmer. In was für ein Kloster denn?
Martin: Das spielt keine Rolle, es sind ihrer so viele in der Welt. Eines davon auszuwählen, das dürfte nicht schwer sein.
Crotus: Du bist verrückt geworden, Martin!
Martin: Vielleicht.
Crotus: Aber sage mir, wann hast du dich dazu entschieden?
Martin: In dieser Sommernacht.
Crotus: Magister, erwache endlich aus dem Schlaf!
Martin: Gerade das habe ich getan!
Crotus: Reiß' dich zusammen, Mann, und mache keinen fatalen Fehler. All sein Leben in den

                Wänden eines Klosters zuzubringen! Das ist ein Zuchthaus, ohne Frist, für immer!
Martin:         Was bedeutet ein irdisches Jahrhundert für die unsterbliche Seele? Nur ein Augen-                 zwinkern, aber wenn ich die geschlossenen Lider wieder öffne, sehe ich auch meine                 Ursula wieder. Um mich niemals mehr von ihr zu trennen.
Crotus:         Sich zu begraben in der Blüte des Lebens! Und was ist mit allem, was vorher mit dir

                war?
Martin:         Es ist gestorben.
Crotus:         Und der Magister auch?
Martin:         Der Magister ist gestorben, aber neu geboren ...
Crotus:       
schreit

Wer denn?
Martin: Der Mönch.
Crotus: Es ist noch nicht zu spät, Luther, einen Schritt zurück zu machen und alles an seinen Platz zu stellen.
Martin: Ich werde mich immer an dich erinnern, Crotus und an alle meine Freunde und Wi- dersacher, und du erinnerst dich an mich, denn heute siehst du mich zum letzten Mal!
Crotus: Aber Martin ...
Martin: Das Gespräch ist zu Ende. Komm, wir verzeihen einander alle Beleidigungen und

verabschieden uns wie frühere Freunde.
Crotus: Nein, als ewige Freunde!
Martin: Nun werden die ganze Welt und alles in ihr Brüder sein.
Crotus: Und sogar ich?
Martin: Und auch du!
Crotus: Auch Ursula?
Martin: Und Ursula wird meine Schwester, wie sie mir einst Mutter war.
Crotus: Warum sich so täuschen, Magister?
Martin: Alles ist so, und wird so sein, und wahrscheinlich war es auch schon so.

Die fröhlichen Stimmen der Kommilitonen sind zu vernehmen.

 

                Es scheint so, dass unsere Kommilitonen von der Sause zurückkommen. So begleitet

                mich zu den Toren meiner neuen Wohnung.
Crotus:       
weint

Zum letzten Mal bitte ich dich und flehe dich an! Sage dich los von dieser Ketzerei! Martin, widerrufe!
Martin: Nie. Mir würde mein Gewissen so etwas nicht erlauben. Und du weine nicht. Ich

möchte, dass deine Seele sich auf einer Stufe mit mir freut, und am Tag der Trennung

keine weltliche Trauer kennt.
Crotus: Aber bevor du gehst, gib mir eine Umarmung.

                Pause

Mit wem verbleibe ich jetzt, Martin?
Martin: Du, wie auch ich, wirst ewig mit Gott sein, Crotus. Amen.

Crotus:         So soll es geschehen, Magister. Und möge dir Gott helfen, Martin Luther!

Luther geht zu Rubianus und sie umarmen sich lange und vergießen jugendliche Tränen.
                                             
                                                                         
Vorhang fällt

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